Israels Präsident im Bundestag: “Deutschland darf nicht versagen”
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Reuven Rivlin (Mitte), Staatspräsident von Israel, bedankt sich nach seiner Rede bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag, die für die Opfer des Nationalsozialismus abgehalten wurde. Neben ihm stehen Andreas Voßkuhle (von oben nach unten), Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Elke Büdenbender, Gattin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und Dietmar Woidke (SPD, von hinten), Präsident des Bundesrates.
© Quelle: Christoph Soeder/dpa
Berlin. Dass der Deutsche Bundestag in jedem Januar eine Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus abhält, ist seit 1996 bereits zur Tradition geworden - doch selten war die Gegenwart in der Zeremonie so präsent wie in diesem Jahr.
Überaus deutlich betonten alle drei Redner die Bezüge zum Heute, allerdings auf sehr verschiedene Weise: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble forderte einen wehrhaften Staat und eine aktive junge Generation im Kampf gegen heutigen Antisemitismus, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht die heutige Demokratie angesichts des neuen Nationalismus, Rassismus und autoritären Denkens vor einer Bewährungsprobe, und Israels Staatspräsident Reuven Rivlin schlug in seiner Rede den Bogen zum aktuellen Iran-Konflikt und zum umstrittenen Nahost-Friedensplan von Donald Trump.
Historische Dimension
So überraschend einiges davon war, so historisch ist zugleich diese Einladung: 75 Jahre nach der Befreiung der Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz im damals besetzten Polen sprechen an diesem Mittwochvormittag erstmals die Präsidenten Deutschlands und Israels, Frank-Walter Steinmeier und Reuven Rivlin, gemeinsam vor den Abgeordneten des deutschen Parlaments.
Den Ton gibt zunächst Bundestagspräsident Schäuble vor, der in seiner Begrüßungsansprache betont: „Ein heilsames Schweigen über Auschwitz gibt es nicht.“ Die historische Verantwortung mahne dazu, über die Opfer, aber auch über die „Konsequenz und Lehre aus dem Geschehenen“ zu sprechen: „jede Generation neu“, so Schäuble.
Schäuble: "Verantwortung für die Sicherheit Israels"
Damit verbunden sei eine „historische Verantwortung für die Existenz und Sicherheit Israels, für die Pflege der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen; für das Festigen dieser außergewöhnlichen Freundschaft“, sagt er – und begrüßt unter Applaus aller Abgeordneten Israels Präsidenten Rivlin, der als Ehrengast neben den Spitzen der Institutionen des deutschen Staates in der ersten Reihe sitzt.
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Bundestagspräident Wolfgang Schäuble bei der Gedenkstunde im Bundestag für die Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
© Quelle: imago images/epd
Zudem nehmen Überlebende der NS-Verbrechen auf der Ehrentribüne an der Gedenkstunde teil – aber eben auch Jeremy Borovitz und Rebecca Blady: zwei Rabbiner, die zum Zeitpunkt des Anschlags von Halle in der angegriffenen Synagoge waren. „Juden müssen in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten“, sagt Schäuble - und schlägt so den Bogen vom Gedenken in die Gegenwart, wie es später auch Bundespräsident Steinmeier tun wird.
"Ihr Engagement macht Hoffnung"
Bis heute gebe es in Deutschland „Antisemitismus und Rassismus in vielen Facetten“ und „Versuche, die Verbrechen kleinzureden oder umzudeuten“, kritisiert Wolfgang Schäuble: „Das wird nicht gelingen.“ Auch dafür applaudiert der Saal.
Schäuble dagegen betont, die historische Verantwortung für den Holocaust sei „konstitutiv für das Selbstverständnis unseres Landes“: "Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern.“ Dafür brauche es einen „starken, konsequent handelnden Staat – und eine couragierte Zivilgesellschaft“, betont der Parlamentspräsident. Grund zum Optimismus sei für ihn dabei, dass auch in diesem Jahr viele Jugendliche der Einladung des Bundestages zur internationalen Jugendbegegnung gefolgt seien: „Ihr Interesse und Ihr Engagement machen Hoffnung, dass es uns gelingen kann, immer neue Formen und Wege der Erinnerung zu finden.“
Auch die AfD applaudiert - mit Ausnahmen
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte schon am vergangenen Donnerstag in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem deutliche Worte über deutsche Verantwortung und deutsche Gegenwart gefunden. Im Bundestag variierte er sie - aber mit Nachdruck und eben erstmals auf Deutsch und im Hohen Hause.
Aber im Bundestag hat Steinmeier eine andere Zuhörerschaft, und zu ihr gehören auch die 89 Abgeordneten der AfD rechts vom Rednerpult, von denen viele in Bezug auf den Nationalsozialismus einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" das Wort reden. Der Bundespräsident spricht sie in dieser Gedenkstunde nicht direkt an; ein Eklat bleibt aus. Die vorderen Reihen klatschen.
Steinmeier erinnert an Zertrümmerung der Weimarer Demokratie
Etwas weiter hinten lassen Abgeordnete wie Jens Maier, der gerne von "Schuldkult" redet, oder der abgewählte Rechtsausschussvorsitzende Stephan Brandner, dem nach dem Anschlag von Halle antisemitische Äußerungen vorgeworfen worden waren, die meiste Zeit die Hände ruhen.
Etwa, wenn Steinmeier sagt: "Wer verstehen will, muss sich an die Wurzeln des nationalsozialistischen Weltbildes erinnern – an völkisches Denken, an Antisemitismus und Rassenhass, an die Verrohung der Sprache in der Weimarer Republik, an die Zerstörung der Vernunft, an den Einzug der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, an die Verächtlichmachung des Parlaments, die Zertrümmerung des Rechtsstaats und der Demokratie."
"Unsere Selbstgewissheit war trügerisch"
Auf der Besuchertribüne sitzen das junge Rabbinerpaar Borowitz und Blady und hören, wie Steinmeier von der schweren Holztür spricht, die in Halle ihre Leben gerettet hat. Auf den Abgeordnetenbänken der SPD sitzt der Abgeordnete Karamba Diaby und hört, wie der Bundespräsident fragt: "Wie kann ich das sagen, wenn ein Abgeordneter dieses Hauses wegen seiner Hautfarbe mit dem Tode bedroht wird?!" Den Satz nämlich: "Die Deutschen haben verstanden."
Nein, die Gefahren der Gegenwart haben sie nicht verstanden, meint der Bundespräsident. "Wir waren uns einig über die Lehren der Vergangenheit und eine Erinnerungskultur, die es zu pflegen galt. Doch ich fürchte: Unsere Selbstgewissheit war trügerisch", sagt er bitter.
Frühere Warnungen von Überlebenden
Er ist nicht der erste, der an dieser Stelle, in dieser Gedenkveranstaltung warnt. Vor einem Jahr sprach hier der israelische Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer und warnte: „Antisemitismus ist nur eine der Geißeln, von denen jetzt eine Nation nach der anderen schleichend befallen wird. Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und insbesondere ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch.“
Vor zwei Jahren hatte Anita Lasker-Wallfisch die Gedenkrede gehalten, sie überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen. „Aufpassen!“, warnte sie die Anwesenden im Bundestag. Geschichte wiederhole sich zwar nicht, dennoch sollte sie eine Warnung sein. Und sie sagte: „Hass ist ganz einfach ein Gift. Und letzten Endes vergiftet man sich selbst.“ Allein im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im von der Wehrmacht besetzten Polen ermordete die SS mindestens 1,1 Millionen Menschen, zumeist Juden. In ganz Europa fielen dem Holocaust rund 6 Millionen Juden zum Opfer.
Rivlin würdigt Deutschlands Erneuerung
Die Präsidenten Steinmeier und Rivlin hatten in der vergangenen Woche bereits gemeinsam am Holocaust-Forum in Yad Vashem und am Montag am Gedenken in Auschwitz teilgenommen. In Yad Vashem durfte Steinmeier als erstes deutsches Staatsoberhaupt reden. Im Bundestag ist nun Rivlin der zentrale Redner, er spricht auf Hebräisch und würdigt vor allem, welchen guten Weg Deutschland nach 1945 genommen habe.
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Israels Staatspräsident Reuven Rivlin lobt Deutschland für seinen Weg nach 1945 - und mahnt für die Gegenwart.
© Quelle: imago images/photothek
Nicht zuletzt durch die Bereitschaft, die historische Verantwortung zu übernehmen, sei Deutschland - der "Staat, der der Schrecken der Welt gewesen ist" - heute inmitten eines neuen, geeinten Europas ein "Leuchtturm" für Demokratie, Liberalismus und Menschenrechte geworden. Bundeskanzlerin Angela Merkel werde inzwischen zurecht bisweilen als "Anführerin der freien Welt" bezeichnet, so Rivlin, Israel und Deutschland seien heute Partner im Kampf gegen Antisemitismus.
"Leuchtturm der Liberalität"
Dadurch wachse Deutschland aber auch eine besondere Rolle in der Gegenwart zu, wenn nun ganz Europa "von den Geistern der Vergangenheit heimgeholt“ werde. "Rassismus, Nationalismus und Kriegstreiben dürfen sich nicht wiederholen", fordert Rivlin. Deutschland, das Land, "in dem die Endlösung erdacht wurde", habe eine besondere Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus und für den Schutz liberaler Werte: "Deutschland darf hier nicht versagen." Wenn Juden hier nicht angstfrei leben können, können sie nirgendwo in Europa angstfrei leben, mahnt er.
Aus Israels Perspektive sei jedoch eine weitere Lehre aus dem Holocaust, dass man vor der Bedrohung der Existenz des jüdischen und demokratischen Staates nicht die Augen schließen dürfe, betont der konservative Politiker. Er spricht das Regime in Iran und die Hisbollah an, die beide mehrfach die Vernichtung Israels zu ihrem Ziel erklärt hatten. "Gerade dieser Tag" lehre, dass aus "hassgetränkter Rhetorik" Ernst werden könne.
Schließlich geht Rivlin auf den am Vorabend in Washington vorgestellten Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump ein, spricht von "Momenten, die hoffnungsvoll stimmen können". Nun könnten sich wieder Gesprächskanäle zwischen Israel und den Palästinensern öffnen. "Der israelisch-palästinensische Konflikt ist zu einer langwierigen Tragödie für beide Völker geworden", sagt er in seinem überraschend tagespolitisch geprägten Teil seiner Gedenkrede. Im Nahostkonflikt gehe es nun zunächst darum, wieder aufeinander zuzugehen - und dabei könne Deutschland eine wichtige Rolle spielen, so Rivlin: "Wir müssen Vertrauen bilden und da können Sie uns sehr helfen."