Ist Corona wie ein täglicher Flugzeugabsturz? Was Vergleiche bringen
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München: Markus Söder, Vorsitzender der CSU und Ministerpräsident von Bayern, spricht beim digitalen Deutschlandtag der Jungen Union (JU).
© Quelle: Lino Mirgeler/dpa
Der Vergleich sollte seine Kolleginnen und Kollegen wachrütteln. Denn Zahlen erreichen vielleicht den Kopf, aber selten das Herz. Rund 300 Corona-Tote pro Tag, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kürzlich in einer Runde mit Angela Merkel und den anderen Ministerpräsidenten, das sei, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen. Es war, so könnte man sagen, ein treffender Vergleich.
Denn das sollte er, er sollte seine Kolleginnen und Kollegen treffen, um sie zu schärferen Maßnahmen zu motivieren. Söder setzte ein rhetorisches Mittel ein, um die Nüchternheit einer statistischen Größe in etwas Emotionales zu verwandeln. Flugzeugabstürze verstören, und sie gehören zu den seltenen, aber dadurch größten Katastrophen, die wir uns in unserer westlichen Welt vorstellen können.
Ein Flugzeugabsturz ist immer ein großes mediales Ereignis, eine Summe vieler Einzelschicksale. Er versetzt nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Beobachter und medialen Teilnehmer in einen Ausnahmezustand – ist doch das Fliegen in irgendeiner Form Bestandteil im Leben der meisten von uns. Und einen solchen Flugzeugabsturz sollten wir uns nun in täglicher Wiederholung vorstellen? Es machte die Dimension sehr deutlich, was 300 Tote pro Tag bedeuten. Söders Analogie sollte aber nicht nur etwas verdeutlichen, sondern auch etwas bewirken. Sie sollte seine Kolleginnen und Kollegen dazu bringen, seiner Ansicht zu folgen, dass schärfere Maßnahmen notwendig sind. Denn Vergleiche können motivieren, können Veränderungen herbeiführen.
Vergleiche spielen in der Corona-Krise eine große Rolle
Aber Vergleiche spielen nicht nur in diesem Söder-Zitat, sondern auch sonst sehr häufig in der Corona-Krise eine große Rolle. Die Bielefelder Historikerin Prof. Angelika Epple betont, wie intensiv Vergleiche in den vergangenen Monaten der Pandemie eingesetzt wurden. Etwa in Sätzen, die beginnen wie „Wenn wir eine Situation wie in Norditalien verhindern wollen, dann müssen wir …“.
Das Vergleichen ist natürlich keine Neuerung unserer Zeit, sondern schon seit Jahrtausenden eine bewährte Praxis der Menschen. Aber während der momentanen Corona-Krise können wir dem Vergleich als wissenschaftlicher Methode quasi live zuschauen. „Wir sind Augenzeugen, wie mithilfe von Vergleichen Orientierung gesucht, gefunden und begründet wird“, betont Epple. „Methodische Finessen des statistischen Vergleichens werden diskutiert, die Aussagekraft der Zahlen angezweifelt, um anschließend weiter zu vergleichen.“
Schon die Definition des Sars-CoV-2-Virus fußt auf einem Vergleich mit anderen Viren. Dieser zeigte, dass das neue Virus zwar Teil der Coronaviren-Familie ist, aber eigenständig genug, um als etwas Singuläres verstanden zu werden.
Vergleiche geben Menschen aber nicht nur in der momentanen Corona-Krise die Möglichkeit, in einer komplexen Welt Ordnung und Struktur zu schaffen. Schon die Definition als Gruppe, als „Wir“, fußt auf einer Gegenüberstellung. „Wir vergleichen uns mit den anderen, und dadurch erzeugen wir ein Verständnis, was wir sind oder was die anderen sind“, sagt Epple, die im Sonderforschungsbereich „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ der Universität Bielefeld als Sprecherin fungiert. Vor wenigen Tagen wurde bekannt gegeben, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Sonderforschungsbereich ab Januar 2021 für weitere vier Jahre fördert. Für die zweite Förderperiode wurden 11,9 Millionen Euro bewilligt.
„Germany’s Next Topmodel“ und Unis sind Teile von Rankings
Vergleiche können die Welt aber nicht nur ordnen und klassifizieren – etwa indem eine Tierart von einer anderen unterschieden werden kann –, sie können die Welt auch verändern. Das gilt in vielen Bereichen. „Wenn eine Armee sieht, dass eine andere mehr oder bessere Waffensysteme hat, dann will sie natürlich sofort aufschließen und ihre Waffensysteme erweitern und verbessern“, nennt Epple ein Beispiel.
Auch das Ranking, auf das heute häufig zurückgegriffen wird, ist ein Beispiel. Universitäten orientieren sich an anderen Hochschulen, die in einer solchen Rangliste höher platziert sind, und verändern etwa Studienangebote. Auch Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ basieren auf einem Ranking. Und Fußballnationalmannschaften verändern ihre Spielweise, wenn sie sich mit erfolgreicheren Mannschaften vergleichen: „Wenn plötzlich eine andere Art und Weise des Stürmens besonders erfolgreich ist, werden andere Mannschaften dies nachmachen. Damit ändern sie ihre Taktik“, sagt Epple. Sie bringt die Merkmale dieser Teilbereiche auf eine Formel: „Es gibt einen Wettbewerb, eine Konkurrenzsituation, und diese befeuert und verändert auch die Akteure, die mit im Spiel sind.“
Vergleiche können allerdings auch schädlich und verletzend sein, sie können negative Folgen haben. Bei Vergleichen sei das Interessante, „dass man automatisch denkt, es wären die Objekte, die einem nahelegen, ob sie gleich sind oder unterschiedlich“, sagt Epple. Äpfel und Birnen kann man ja, folgt man dem deutschen Sprichwort, nicht miteinander vergleichen. „Aber das ist Quatsch“, sagt die Historikerin, die Mitherausgeberin und Autorin des Buchs „Die Welt beobachten. Praktiken des Vergleichens“ (Campus, 382 Seiten, 45 Euro) ist. „Man kann im Prinzip alles miteinander vergleichen, weil der Vergleich mit den Objekten gar nicht so viel zu tun hat, sondern mehr mit denjenigen, die den Vergleich anstellen.“ Somit ist das Vergleichen immer eine Konstruktionsleistung und nichts Objektives. Das werde besonders bei rassistischen Zuschreibungen deutlich, sagt Epple. „Rassistische Vergleiche zielen immer darauf: Wer eine Personengruppe abwerten will, macht das durch Vergleiche und gibt damit der Aussage den Anstrich von Objektivität.“ Doch diese Objektivität ist ein Trugschluss.
Auch in den sozialen Medien wird ständig verglichen
Dass Vergleiche neue Realitäten schaffen, wird zudem vielen, vor allem jungen Menschen, täglich in den sozialen Medien klar. Dort lässt sich das eigene Leben ständig in Relation zu anderen setzen. Dabei ist das Leben der anderen meist schöner, bunter, aufregender und glücklicher. Freunde scheinen viel öfter auf Reisen zu sein (jedenfalls außerhalb der Corona-Pandemie), feiern die größeren Partys, sehen besser aus – und zufriedener sind sie sowieso. Scheinbar jedenfalls. Selbst das Wissen um die Wirkmacht von Fotofiltern hilft da oft nicht. Neid heißt die böse Schwester des Vergleichs.
Das ständige Blicken auf die anderen kann lähmen und unzufrieden machen. Aber das ist keine Erkenntnis des Internetzeitalters. Schon der dänische Philosoph Søren Kierkegaard wusste im 19. Jahrhundert: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“