Joe Biden: Der alte weise Mann
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Der Stift als politisches Instrument: US-Präsident Joe Biden hat in seinen ersten Tagen schon einige „Executive Orders“ unterzeichnet.
© Quelle: imago images/UPI Photo
Was Donald Trump in vier Jahren alles angerichtet hat, kann man nicht an einem einzigen Nachmittag ungeschehen machen. Das sagte jüngst John Podesta, Vordenker bei den US-Demokraten und früherer Stabschef im Weißen Haus unter Präsident Barack Obama. Der 72-Jährige, grauer Igelschnitt, listiges Grinsen, ließ dann seine Pointe folgen: „Das dauert mindestens zehn Tage.“
Zehn Tage! Fans von Joe Biden prusten vor Lachen fast ihre Getränke über den Tisch, wenn sie diesen Scherz weiterreichen.
Im Weißen Haus ging es zu wie beim Brezelbacken
Die zehn Tage sind nun schon um seit dem Amtswechsel am 20. Januar. Und in der Tat konnte eine ganze Fülle von Trumps „Executive Orders“ verblüffend schnell wieder rückgängig gemacht werden – durch „Executive Orders“ von Biden. Im Weißen Haus ging es zu wie beim Brezelbacken: Eine „Executive Order“ folgte schnell der nächsten.
Die USA kehren zurück zum Pariser Klimavertrag.
Sie arbeiten wieder in der Weltgesundheitsorganisation mit.
Sie verhängen eine Maskenpflicht auf Bundesgrundstücken.
Sie schieben ein 1,9 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket an.
Sie stoppen Ölbohrungen in den Naturschutzgegenden Alaskas.
Sie widerrufen Einreisebeschränkungen entlang religiöser Linien.
Sie beenden die Diskriminierung Transsexueller in der Armee.
Vor allem aber beginnen sie, systematisch ihre „Allianzen zu reparieren“, wie Biden es formuliert hat. Der allererste dienstliche Anruf, den der neue Verteidigungsminister Lloyd Austin machte, ging nach Brüssel, zum Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg. Für das westliche Bündnis war es, als kehre man zurück zu den Grundrechenarten. Viele Probleme bleiben. Aber endlich ist zwei plus zwei wieder vier.
Doch beim Neubeginn in den USA geht es um mehr als um eine neue Verständigung nach draußen und die eine oder andere sachpolitische Korrektur im Inneren. Die für die Zukunft der USA wichtigste Veränderung liegt woanders: im Menschlichen, in der Frage, welchen Charakter die Nation zeigt.
Trump hat vier Jahre lang Verbissenheit und Verkniffenheit verkörpert, vor allem aber einen Materialismus, dessen Düsternis eine Mehrheit am Ende nur noch schaudern ließ. Das Land wurde regiert von einem zwielichtigen Milliardär, der als New Yorker Baulöwe Steuern hinterzogen hat und dem es später als Präsident nicht peinlich war, Staatsgäste aus Profitinteresse in den Hotels der eigenen Familie bewirten zu lassen, auf amerikanische Staatskosten.
„Ask not what your country can do for you“
Die 3 Dollar für das Glas Wasser, das die US-Regierung etwa einem japanischen Diplomaten im Trump Hotel hinstellte, bezahlte dann der amerikanische Steuerzahler. Geht es noch ärmer?
„Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country“: Das sagte John F. Kennedy in seiner unvergessenen Antrittsrede vom 20. Januar 1961. Trump indessen, der Egozentriker in Chief, dachte stets an sich und schadete systematisch dem Land – alles in präziser Umkehr dessen, was Kennedy von den Amerikanern forderte.
Der Demokrat Biden vertreibt diesen Ungeist jetzt, Hand in Hand mit seiner Ehefrau Jill. Überraschend schnell schufen die beiden eine Atmosphäre, in der sich manches dreht. Plötzlich spielt Kultur in Washington wieder eine Rolle. Und vergessen geglaubte Dinge erstrahlen neu, die unglaubliche Freundlichkeit des Landes etwa und seine unglaubliche Vielfalt.
Amerika ist nicht zerstört worden durch Trump. Die 22-jährige Poetin Amanda Gorman, der Star der Inauguration, formuliert es so: „Even as we grieved, we grew.“ Selbst als wir trauerten, wuchsen wir.
Es war Jill Biden, die promovierte Erziehungswissenschaftlerin, die das besondere Talent Amanda Gormans entdeckt hatte, im Jahr 2017, bei einem Dichterwettbewerb in der Library of Congress. Der Präsident kann froh sein über eine Ehefrau, die solche Sensibilität beweist. Und die neue First Lady kann froh sein über einen Ehemann, der zur Amtseinführung keinen Großschriftsteller bestellt hat, sondern eine junge Frau, die ganz am Anfang steht – und die auch mal gestottert hat als Kind, ebenso wie der neue Präsident.
Alles nur Schmus? Natürlich bleiben viele Probleme bestehen. Der Viruswelle könnte eine Pleitewelle folgen, Biden erbt eine ungeheure Krise am Arbeitsmarkt, und die Gefahr neuen Terrors im Inland und neuer Kriege im Ausland ist nicht gebannt.
Republikaner und Demokraten sah man wieder miteinander scherzen
Doch es gibt Hoffnungszeichen. Das Aufeinanderzugehen der verfeindeten Lager jedenfalls hat bereits begonnen, in Ansätzen zumindest. Schon in den ersten zehn Tagen kam damit Bewegung in Bidens zentrales politisches und soziokulturelles Projekt. Republikaner und Demokraten sah man mittlerweile erstmals seit Langem wieder miteinander scherzen. Vielleicht haben die gemeinsamen Momente der Stille geholfen, beim Gebet etwa und beim Gedenken an die mehr als 400 .000 Corona-Toten. Vielleicht half auch die Anwesenheit von Ex-Präsident George W. Bush bei der Vereidigung Bidens.
Weiche und harte Faktoren wirken zusammen. Am meisten hilft derzeit das lebhafte Interesse vieler republikanischer Politiker, nicht zuletzt der Gouverneure, am neuen 1,9-Billionen-Dollar-Paket, das Biden wegen der Corona-Krise plant. Im Senat dominieren jetzt die Demokraten, und viele Republikaner ahnen: Man wird höflich sein müssen zu ihnen. Pecunia nervus rerum. Dass Geld der Nerv der Dinge ist, wusste man schon im alten Rom.
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Biden ist ein alter Hase. Über die zusammenführende Kraft eines großen Geldsacks, der in Verhandlungen mitten auf dem Tisch liegt, muss man ihm nichts erzählen. Er kennt das alles, seit Jahrzehnten. Dem Senat gehört Biden seit den Siebzigerjahren an. Schon achtmal, man glaubt es kaum, hat er an einem 20. Januar die Amtseinführung eines neuen Präsidenten verfolgt. Jimmy Carter begann im Jahr 1977, Ronald Reagan 1981, George Bush senior 1989, Bill Clinton 1993, Georg W. Bush 2001, Barack Obama 2009, Donald Trump 2017. Jetzt, im Januar 2021, war er selbst dran.
Was nun? Wo setzt einer, der schon so viel gesehen und erlebt hat in den Korridoren der Macht, den Schwerpunkt seiner eigenen ersten Tage? Mit dem Fähnchen für höchste Priorität markierte Biden soeben das menschliche Miteinander. An Teamgeist in US-Regierungen wurde schon oft appelliert im Laufe der Jahrzehnte, aber nie wurde er mit solcher Wucht verordnet. Biden drohte seinen Mitarbeitern im Weißen Haus, er persönlich werde, sofort und noch an Ort und Stelle („on the spot, I repeat, on the spot“) jeden entlassen, der einen anderen respektlos behandelt. Biden nimmt nicht, wie Trump, jene auf den Kieker, die ihm quer kommen. Er droht denen, die untereinander fies werden.
„Meine Regierung soll aussehen wie Amerika“
„Meine Regierung soll aussehen wie Amerika“ – das hat Biden oft gesagt, und das tut sie auch. Es sind viele Frauen dabei, viele junge Leute, aber auch sehr alte, Vertreter von Minderheiten und, in Gestalt des smarten für Verkehr und Infrastruktur zuständigen Pete Buttigieg, auch der erste verheiratete homosexuelle Minister.
Manche dachten anfangs, mit all dem wolle der neue Präsident den Umstand kaschieren, dass im Oval Office letztlich doch wieder ein alter weißer Mann Platz genommen hat. Mit 78 Jahren ist Biden dort sogar der bislang älteste Neuling. Doch man muss eine andere Deutung zulassen. Amerika, schrieb Biden in einem außenpolitischen Grundsatzartikel, solle den Rest der Welt nicht beeindrucken durch Beispiele für seine Macht, sondern durch die Macht seines Beispiels. Das ist ein wunderbarer Satz, aber Biden wird ihn auch im Inland gelten lassen müssen, gegen sich selbst und seine Leute. Nur wenn er Teamspiel vorführen kann in der eigenen Regierung, wenn er eine Verständigung hinbekommt von Menschen mit einem diversen Woher auf ein gemeinsames Wohin, könnte es auch etwas werden mit der Aussöhnung der ganzen Nation draußen im Land.
Eine Führung, die auf Moral setzt und auf Charakter, kommt nicht aus ohne gutes eigenes Beispiel. Damit ist ein große Chance beschrieben, aber auch eine große Fallhöhe.
Vielleicht aber bekommt Biden genau dieses Projekt hin – nicht trotz, sondern gerade wegen der 78 Jahre, die er schon auf dem Tacho hat: als alter weiser Mann.