Konzerte und Festivals auf der Kippe: die vielen Probleme der Livemusik-Branche
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Endlich wieder Festivals! Für viele Fans sowie Musikliebhaberinnen und ‑liebhaber wird ein Traum wahr, für die Veranstaltungsbranche hingegen ist die Situation nach wie vor schwierig.
© Quelle: Getty Images
Berlin. Es scheint ein Schritt in die richtige Richtung, in Richtung „Normalität“ zu sein. Nach zwei Jahren coronabedingter Pause ist der deutschen Festivalsommer wieder erwacht. Auf dem Rock-am-Ring-Festival bei Nürnberg feierten 90.000 Musikliebhaberinnen und ‑liebhaber. Das Hurricane-Wochenende in Scheeßel wartete mit 80 teilweise internationalen Solokünstlerinnen, ‑künstlern und Bands auf und das Southside bedankte sich online überschwänglich bei seinen rund 65.000 Besucherinnen und Besuchern.
Nach Konzertabsagen, verschobenen Tourneen und Livestreams als Ersatzangebot könnte man meinen, dass die Branche wieder aufatmet. Doch der Schein trügt. Zu alten Problemen kommen neue hinzu und alles vermengt sich zu einem toxischen Cocktail, der die Konzertbranche an den Rand des Zusammenbruchs bringt. Die Zutaten im Detail:
Fachkräftemangel
Ähnlich wie in der Gastronomie, im Messebau oder im Tourismus sind auch aus der Veranstaltungsbranche viele Fachkräfte abgewandert. Da viele Arbeitskräfte üblicherweise nicht dauerhaft angestellt sind, sondern für Tourneen oder andere Veranstaltungen gebucht werden, sind einige Jobs in der Branche ohnehin wenig krisensicher. Im Veranstaltungssektor ist es nicht unüblich, sich von einem Job zum nächsten zu hangeln.
Als während der Pandemie inklusive mehrerer Lockdowns dann ein Großteil der Veranstaltungen abgesagt werden musste, orientierten sich viele Bühnenarbeiterinnen und Bühnenarbeiter, Veranstaltungstechniker und ‑technikerinnen und Co. neu. „Wer noch da ist, ist auf lange Zeit ausgebucht“, fasst das Wacken-Open-Air in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung zusammen.
Denn auch das weltweit größte Heavy-Metal-Festival bekam die personellen Engpässe zu spüren. Unter anderem betroffen: Rammstein-Frontmann Till Lindemann, der mit seinem Soloprojekt eigentlich Anfang August im schleswig-holsteinischen Wacken auftreten sollte. Aufgrund fehlender Experten, die im Hintergrund für einen reibungslosen Ablauf der Show sorgen sollten, musste der 59-Jährige seinen Auftritt canceln. „Egal ob Busfahrer, Backliner oder Stagehands, die Branche häutet sich“, so das Wacken-Open-Air weiter. „Der ungeplante Ausfall einzelner Personen, etwa wegen Verletzungen oder Erkrankungen, kann so ganze Touren zunichtemachen, egal, wie gut diese geplant waren.“
Aktuell sind schätzungsweise 40 Prozent der Beschäftigten aus der Veranstaltungsbranche abgewandert. Das teilt das Forum Veranstaltungswirtschaft mit. Es vereint sechs der großen Verbände aus dem Wirtschaftszweig Veranstaltungen.
Inflation
Nicht nur an der Zapfsäule oder an der Supermarktkasse macht sich die aktuelle Inflation von 7,9 Prozent bemerkbar. Auch in der Veranstaltungsbranche zeigt sich ein Kalkulationsdilemma. „Da es sich bei dem größten Teil der aktuellen Veranstaltungen noch um Nachholungen pandemiebedingt in den Jahren 2020/2021 ausgefallener Veranstaltungen handelt, wurden die Eintrittskarten dafür noch auf der Grundlage von Kostenkalkulationen des Jahres 2019 verkauft“, erklärt Jens Michow, geschäftsführender Präsident der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft (BDKV).
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© Quelle: Reuters
Materialknappheit
Da sich viele aus den Vorjahren verschobene Konzerte derzeit mit aktuellen Projekten im Kalender stauen, wird das verfügbare Material knapp. „Mit der Folge, dass Vorhandenes entweder völlig überteuert vermietet oder gar nicht mehr auf dem Markt verfügbar ist“, so Michow. Für das Wacken-Open-Air beispielsweise rollen mehrere Dutzend Lkw über die Feldwege, um über 1000 Tonnen Material – von der Schraube über Kabel bis hin zu Traversen – für den Bühnenaufbau anzuliefern.
Nachwuchsprobleme
Ähnlich wie in vielen anderen Ausbildungsberufen sucht auch der Veranstaltungssektor händeringend Nachwuchs. „Die Ausbildungszahlen im Ausbildungsberuf Veranstaltungskaufmann und ‑frau sind rückläufig“, führt BDKV-Präsident Jens Michow beispielhaft an. Dabei ist die Bandbreite an Möglichkeiten groß: Von Veranstaltungskaufleuten über Bühnentechnikerinnen und ‑techniker bis hin zu Sicherheitskräften reicht der Pool an Fachkräften, der für Musik- und Kulturveranstaltungen gebraucht wird.
Doch lange Arbeitszeiten, teilweise unregelmäßige Anstellungen und körperlich schwere Arbeit machen die Branche für viele junge Menschen nicht zum Feld der Traumberufe. Wenn der Nachwuchs ausbleibt, hat das in weiterer Konsequenz auch Auswirkungen auf die Zahl verfügbarer Fachkräfte. Gehen ältere Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand und bleibt der Nachwuchs aus, entsteht Personalmangel.
Corona
Obwohl viele Konzerte und Festivals derzeit gut besucht sind und einige von ihnen ausverkauft waren oder sind, beschäftigt viele Musik- und Konzertfans weiterhin die Sorge vor einer Corona-Infektion. Bei einem Technofestival im niederländischen Utrecht steckten sich beispielsweise rund 1000 von insgesamt 20.000 Besucherinnen und Besuchern an.
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© Quelle: dpa
Laut Michow wächst außerdem die Skepsis der Fans, ob die angekündigten Veranstaltungen überhaupt stattfinden werden. In einzelnen Fällen kann das nicht nur die Planung erschweren, sondern auch ein bereits laufendes Festival zunichtemachen.
Ein Beispiel: das Puls-Open-Air in der Nähe von Augsburg. Dort fehlten kurzfristig Fachkräfte, um das Sicherheitskonzept des Festivals aufrechtzuerhalten. Erst am Donnerstag angekommen, musste sich die 4000 bereits angereisten Fans am Freitag wieder auf den Heimweg machen. „Ein Traum ist geplatzt. Erwartungen wurden enttäuscht. Wir wissen das und sind selbst mit euch enttäuscht und sehr traurig darüber“, teilte der Festivalveranstalter auf seiner Homepage mit. Auch Experte Michow kennt das Problem. „Immer häufiger fallen Fachkräfte bei Veranstaltungen aufgrund einer Corona-Erkrankung aus.“
Auslaufende Förderprogramme
Obwohl die Veranstaltungswirtschaft mit einem Umsatz von rund 6 Milliarden Euro im Jahr 2019 zu einem der stärksten Wirtschaftszweige gehört, mussten viele Firmen und Betriebe in den Corona-Jahren auf staatliche Hilfe zurückgreifen. „Die Kulturbranche ist äußerst besorgt aufgrund der Tatsache, dass der Sonderfonds für Kulturveranstaltungen zum Jahresende ausläuft“, sagt BDKV-Präsident Michow. Den Unternehmen würde dadurch eine Absicherung bei erneuten, pandemiebedingten Ausfällen fehlen. „Private Versicherungsunternehmen decken dieses Risiko grundsätzlich nicht mehr ab“, sagt der Experte.
Fehlende Ansprechpartner auf politischer Ebene
Die Veranstaltungsbranche wünscht sich einen vom Bund beauftragten Ansprechpartner. Mit Thomas Bareiß (CDU) sei das laut Michow in der vergangenen Legislaturperiode für die Gastronomie bereits gut umgesetzt worden.
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„Dann reiß ich der Puppe den Kopf ab!“: So war das Konzert von Rammstein in Berlin
Rammstein sind aktuell auf Deutschland-Tour. Am Samstagabend spielten sie ihr erstes Konzert in Berlin. Die Show ist sehr durchchoreografiert, in jeder Stadt nahezu identisch. Besonders wird es laut unserem Autor erst dann, wenn es mal leise wird.
Unter dem Hashtag #AlarmstufeRot schlossen sich viele Verbände, Unternehmen und Initiativen der Veranstaltungswirtschaft zu Beginn der Pandemie zusammen, um auf die Brisanz ihrer Lage aufmerksam zu machen. Bei einer Protestaktion vor zwei Jahren beispielsweise ließen über 40.000 Mitwirkende mehr als 9000 Gebäude deutschlandweit in rotem Licht erstrahlen, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Weiterhin fordert die Initiative mehr Unterstützung seitens der Politik.
Wie geht es weiter?
Viele alte und neue Probleme sorgen dafür, dass der momentane Festivalsommer für die Veranstaltungsbranche einen bitteren Beigeschmack bekommt. Und auch der Blick auf den nahenden Herbst mit einer möglichen neuen Corona-Welle bereitet Unternehmen und Verbänden Sorge. Wie kann also eine nachhaltige Lösung aussehen?
Neben den Forderungen des BDKV gibt es bereits erste Ansätze aus der Politik. Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Staatsministerin für Kultur und Medien, verfügt in diesem Jahr über einen Bundeskulturetat von 2,29 Milliarden Euro. Damit soll unter anderem „die soziale Lage der Kulturschaffenden“ verbessert werden. Konkret gemeint sind beispielsweise die Altersvorsorge und Mindesthonorare. Als „Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält“, habe Kultur in einer demokratischen Gesellschaft eine große Bedeutung und sei „kein Luxusgut, kein Sahnehäubchen nur für gute Zeiten“, teilt die Ministerin mit.
Laut Roth brauche die Veranstaltungsbranche im Normalfall keine staatliche Unterstützung. Mit den Corona-Hilfsmaßnahmen des Ministeriums, die bis Ende Juni 2023 verlängert wurden, gebe man „vielen in der Branche weitere Planungssicherheit“. Um den Fachkräftemangel – laut der Ministerin das „größte Problem“ – zu beheben, sei man mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Gespräch, „um langfristige Lösungen zu entwickeln“.
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