Merkel beschwört neue Einheit
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Mehr als nur ein „Neuaufguss des Alten“? Vizekanzler Olaf Scholz, Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch im Bundestag.
© Quelle: Foto: AP
Berlin. Die Redeformel „Ich möchte, dass ...“ ist ein leichter, aber fast immer funktionierender Kniff: Ein Politiker kann damit Klarheit in der Sache signalisieren, aber auch Entschlossenheit betonen, Führungswillen.
Gerhard Schröder redete öfter so, etwa bei der dramatischen Verkündung seiner Arbeitsmarktreformen im März 2003. Angela Merkel dagegen ging immer sparsam um mit rhetorischen Mitteln aller Art. Sie weiß, dass sie keine große Rednerin ist.
Diesmal aber, zu Beginn ihrer vierten Amtszeit als Kanzlerin, lässt sie ihre Regierungserklärung gleich in ein mehrfaches „Ich möchte“ münden.
„Die in Berlin haben etwas gelernt“
Merkel sagt: „Ich möchte alles dafür tun, dass am Ende dieser Legislaturperiode die Menschen sagen: Die in Berlin haben aus dem Wahlergebnis von September 2017 etwas gelernt. Die haben wirklich etwas verstanden und viel Konkretes und Gutes für uns erreicht.“ Und dann fügt sie noch hinzu: „Ich möchte, dass am Ende dieser Legislaturperiode diese Bilanz gezogen wird: Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden, Spaltungen und Polarisierung konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden, und Zusammenhalt ist neu gewachsen.“
Arbeitet da jemand an einer neuen deutschen Einheit? Klar ist nur: Die Erwartungen an diesen Auftritt der Kanzlerin waren hoch. Zu denen, die die Latte nach oben geschoben hatten, gehörte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er hatte der neuen schwarz-roten Regierungsriege am Tag des Amtsantritts eine höfliche Mahnung mitgegeben: „Um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, wird ein schlichter Neuaufguss des Alten nicht genügen.“
„Wir haben allzu lange die Augen verschlossen“
Merkels Antwort kommt in Gestalt einer nachdenklichen, über weite Strecken selbstkritischen Rede. Immer wieder zählt die Kanzlerin Dinge auf, vor denen die Bundespolitik „allzu lange die Augen verschlossen“ habe. Die in weiten Teilen der Bevölkerung bis heute unverstandene Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 begründet sie mit einer humanitären Ausnahmesituation, die sich nicht wiederholen dürfe.
Ihr damals viel diskutierter Appell „Wir schaffen das“ sei zum „Kristallisationspunkt einer Auseinandersetzung“ geworden, sagt Merkel. „Im Großen und Ganzen“ habe das Land die Bewährungsprobe bewältigt.
Immerhin gelingt es Merkel mit ihrer stellenweise wie ein Selbstgespräch wirkenden Rückblende auf die Flüchtlingspolitik, versöhnlichen Beifall bei CDU/CSU, SPD, Linken, FDP und Grünen einzusammeln.
„Ein Weiter so kommt nicht in Betracht“
Beim Blick nach vorn verweist Merkel auf die sich rundum „epochal“ verändernde Welt. Schon deshalb komme ein „Weiter so“ nicht in Betracht, weder für die Politik noch für die Wirtschaft. Auch Branchen, auf deren starke Stellung Deutschland immer habe bauen können, vom Automobilbau über den Maschinenbau bis zur Chemie, stünden vor ungeheuren Herausforderungen. Das 21. Jahrhundert müsse das Jahrhundert des Multilateralismus sein, betont Merkel – und wirbt einmal mehr für freien Handel und offene Grenzen.
Mit Blick auf Syrien erhebt die Kanzlerin den Zeigefinger gegenüber Russland und – erstmals öffentlich – auch gegenüber der Türkei. Die Luftangriffe auf Ost-Ghuta durch das von Moskau unterstützte Assad-Regime kritisiert sie ebenso „auf das Schärfste“ wie das türkische Vorrücken im nordsyrischen Afrin.
Merkels Leitthema aber bleibt an diesem Tag die Integration der Schwachen und der Minderheiten. „Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist eine Schande“, sagt sie.
„Der Islam ist inzwischen ein Teil Deutschlands“
Zugleich reicht sie allen rechtstreuen in Deutschland lebenden Moslems die Hand. „Es steht völlig außer Frage, dass die historische Prägung unseres Landes christlich und jüdisch ist“, sagt die Kanzlerin. „Doch so richtig das ist, so richtig ist es auch, dass mit den 4,5 Millionen bei uns lebenden Muslimen ihre Religion, der Islam, inzwischen ein Teil Deutschlands geworden ist.“
Zum Ende ihrer Rede wird Merkel wieder autobiografisch und zitiert einen Satz aus ihrer ersten Regierungserklärung aus dem Jahr 2005. Damals, angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen, hatte sie Land und Leuten geraten, sich auch auf neue Wege einzulassen, Probleme anzugehen und gesagt: „Ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen.“ Nun wiederholt sie trotzig diesen Satz – und setzt noch etwas obendrauf. „Heute füge ich hinzu: Deutschland, das sind wir alle.“
Artig klatschen da auch die Sozialdemokraten – die gleich nach der überraschend innenpolitisch ausgerichteten Merkel eine überraschend außenpolitisch ausgerichtete Fraktionschefin Andrea Nahles erleben.
„Strafzölle sind Relikte aus dem 19. Jahrhundert“
Schärfer als Merkel rügt Nahles die Türkei: Deren Truppeneinsatz in Syrien sei „völkerrechtswidrig“. Klare Festlegungen dieser Art sind Merkels Sache nicht. Zur weltweiten Unsicherheit trügen auch die von US-Präsident Donald Trump angedrohten Strafzölle bei. Nahles nannte sie „Relikte aus dem 19. Jahrhundert“. Sie seien „keine passende Antwort auf die Probleme des 21. Jahrhunderts“.
Draußen auf den Gängen hält sich später die Begeisterung in Grenzen. In der Union wird gespöttelt, nun wachse zusammen, was nicht zusammengehört. Jens Spahn, der neue Gesundheitsminister, bekennt sich aber zugleich zu Sachzwängen: „Wenn wir das falsch machen, wird es in vier Jahren schon aus mathematischen Gründen keine Große Koalition mehr geben können.“
Die Unruhe der vergangenen Monate ist weder in der Union noch in der SPD ausgeklungen. So ließ am Mittwoch der Chef der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, erneut aufhorchen: Die Wahl von Nahles zur neuen SPD-Bundesvorsitzenden sei „noch offen“, schließlich fehle noch der konkrete Erneuerungsplan für die SPD, sagte Kühnert der „Rheinischen Post“.
„Es gab einen kalkuluerten Misserfolg“
Schon tags zuvor hatte Nahles zu spüren bekommen, dass die Reihen hinter ihr längst nicht so fest geschlossen sind, wie sie es gerne hätte. Beim Wettstreit um den Vorsitz im Sozialausschuss des Bundestages trat der Hamburger Matthias Bartke, ausdrücklich unterstützt von den Konservativen aus dem Seeheimer Kreis, gegen den Baden-Württemberger Martin Rosemann an, den Nahles der Fraktion empfohlen hatte. Bartke gewann, der Kandidat von Nahles verlor haushoch. Von einem „kalkulierten“ Misserfolg sprechen hinterher beschwichtigend die Leute aus dem Nahles-Team. Andere sehen eine erste Autoritätsdelle der frisch gewählten Fraktionschefin.
Auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder holte sich soeben intern Blessuren. Im Streit um eine Gewissensabstimmung über das Werbeverbot für Abtreibungen (§ 219a Strafgesetzbuch) hatte sich Kauder aus Sicht der Konservativen in der Union viel zu nachgiebig gezeigt. Nur ein Entgegenkommen von Nahles dürfte Kauder am Ende vor einem Massenaufstand der Fraktion bewahrt haben. SPD-Linke wiederum sind aufgrund des gleichen Vorgangs über Nahles erzürnt. Kräfte von rechts und von links zerren am schwarz-roten Schiff schon in dem Moment, als es den Hafen verlässt.
Von Dieter Wonka