Mit 16 Jahren verlässt Patricia die Familie – nun kehrt sie zurück
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Schlechte Aussichten – rein statistisch: Die 21-jährige Patricia stammt aus einer zerstörerischen Familie. Sie hat allen Prognosen zum Trotz in der Erziehungshilfe einen beachtlichen Weg gefunden, bis zum Abitur.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Hamm. Schon in der Kirche verhält sich ihr Vater seltsam, das merkt Patricia* gleich, mürrisch ist er und zurückhaltend. Als sie nach Hause kommen, Patricia, ihr Bruder und ihr Vater, stehen Tiefkühlflammkuchen auf dem Tisch, nicht das üblich opulente Weihnachtsessen mit Ente und allem Pipapo.
Die würde es später geben, allerdings nicht für sie.
Die Ente würden Vater, Stiefmutter und Stiefschwester allein essen, während Patricia und ihr Bruder in ihren Zimmern sitzen. Nur einmal würden sie noch runterkommen dürfen, fix die Geschenke holen, dann wieder hoch. So will es die Stiefmutter: unten die neue Familie, oben die Schuldigen, die weinen, weil sie nicht wissen, warum sie schuldig sind. Das wissen sie nie, und das macht es so schwer.
So beschließt Patricia am Heiligen Abend 2013, einen Schlussstrich zu ziehen – endgültig. Schon einmal hat Patricia das versucht, das erste Mal kehrte sie zurück. Dieses Mal sollte es anders sein.
„Wenn man weiß, wie es bei anderen ist“, sagt Patricia, „und dann sieht, wie es bei einem selbst ist … das ist unerträglich.“ An keinem Tag so sehr wie am Heiligen Abend.
Der Schreckenstag des Jahres
Am 24. Dezember herrscht Familie total. Kein Fest ist emotional so aufgeladen wie dieses. Der Advent bietet Fluchtmöglichkeiten, nicht aber der Heilige Abend, den Film, Werbung und das 23-tägige Gefühlscrescendo als Fest glückseliger Wir-lieben-uns-alle-Familien beschwören.
Das ist schön für jene, die in heilen Familien leben. Und kaum erträglich für diejenigen, in deren Familien nichts oder nur sehr wenig heil ist, die in schwierigen Beziehungen aufwachsen. Im Jahr 2017 galt das dem Statistischen Bundesamt zufolge für rund eine viertel Million Kinder und Jugendliche. Und das ist allein die Zahl derer, die fern der Eltern in Einrichtungen der Jugendhilfe erzogen wurden. Es gibt viel mehr „schwierige“ Familien.
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Wenn der Heilige Abend jahrelang ein Schreckenstag ist – wie kann ein Mensch ihn jemals wieder als Familientag begehen? Patricia wird es heute Abend zum ersten Mal nach fünf Jahren tun. Obwohl ihrer Entscheidung wider die Familie zehn Jahre Psychoterror vorausgegangen sind.
Patricia wächst behütet auf, bis ihre Mutter an Krebs stirbt. Doch die kleine Familie rafft sich wieder auf: Der Vater findet eine neue Freundin, Patricia bekommt eine Stiefmutter, da ist sie gerade fünf Jahre alt. Die Stiefmutter bringt wieder Regeln in die Familie, neue Ordnung, neue Verbindlichkeiten. Patricias Vater, hilf- und orientierungslos nach dem Tod seiner Frau, sehnt sich nach dieser Klarheit und auch den Kindern nützt sie zunächst.
In der Familie gilt ein Regelwerk der Willkür
Doch quillt das familiäre Regularium schnell zu einem allumfassenden Lebensregelwerk, dessen Maßstäbe der Willkür entspringen. Immer macht Patricia irgendetwas falsch. Und wann immer das der Fall ist, muss sie sich ins Wohnzimmer setzen und darüber nachdenken; muss aufschreiben, warum sie schuldig ist. Nicht eher darf sie aufstehen, als bis sie den Grund ihrer Bestrafung erraten hat. Wenn es gut läuft, rät Patricia nur einige Stunden. Läuft es schlecht, zieht sich das Raten über Tage. Dann sitzt Patricia, gerade einmal acht Jahre alt, allein an diesem Tisch und schreibt mögliche Sünden auf, bis ihre Stiefmutter ins Bett geht, häufig bis 1 Uhr in der Nacht – und ist Patricia bis dahin noch nicht auf den Grund ihrer angeblichen Schuld gekommen, muss sie am nächsten Tag weiterraten und den danach und den danach.
Einmal beispielsweise muss Patricia raten, was sie angeblich aus dem Zimmer ihrer Stiefschwester „klaute“. Da rät Patricia, rät und rät, drei Tage lang, bis sie auf die Wolle kommt, die sie vor Tagen aus dem Zimmer der Schwester nahm.
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Ein Teil Kuscheln: Patricia kümmert sich auf dem Strüverhof, einer Einrichtung der Jugendhilfe, um die Therapietiere.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Auch Hausaufgaben, die die Schule nie aufgab, befiehlt die Stiefmutter Patricia. Aufgaben, die keinen Sinn ergeben. Freunde treffen darf sie nicht, dafür bleibt keine Zeit, denn die Nachmittage muss sie ja Sünden raten. Auch essen dürfen Patricia und ihr Bruder irgendwann nicht mehr, zu unartig, eklig, unrein seien die beiden. Erst recht, als sie beginnen, die Wohnung nach Essbarem zu durchforsten. Nach diesem Vorfall lagern die Süßigkeiten in einem Tresor. Noch schlimmer wird es, als Patricias Bruder beginnt, etwas Geld aus dem Portemonnaie des Vaters zu nehmen, um damit heimlich Nahrungsmittel zu kaufen Da prasseln die Strafen nur so hernieder und die Stiefmutter redet die beiden vor dem Vater schlecht.
Der Vater liebt seine Kinder, aber durchsetzen kann er sich nicht, und so nimmt er schweigend hin, was seinen Kindern widerfährt. Nur manchmal traut er sich, ihnen heimlich zu helfen oder ihnen Essen zuzustecken.
Was er nicht hinnimmt, ist, dass Patricia gehen will.
„Das ist deine Schuld“, sagt er zu Patricia. „Du lässt dich nicht auf deine Stiefmutter ein.“ Oder: „Weißt du, wie teuer das für mich ist?“ Patricia ist psychisch am Ende, hört auf zu essen, beginnt sich selbst zu verletzen, verliert ihren Willen. Zwei Anläufe braucht sie, ehe sie ihre Familie verlassen darf, mehr als elf Monate. Patricia hat keine körperliche Gewalt erfahren, psychische wiegt vor dem Jugendamt nicht so schwer. Zudem geht ihr Vater rechtlich gegen das Amt vor, das macht die Behörde scheu.
Irgendwann hat Patricia genug. Auf dem Nachhauseweg ist die Angst vor dem Daheim so groß, dass sie dem Jugendamt schreibt: „Ich komme jetzt vorbei. Ich will nicht nach Hause. Wenn ich wieder dahin muss, tue ich mir was an.“
Bildung – nicht für Heimkinder?
Das Jugendamt nimmt sie auf. Dieses Mal für länger. In eine Erstunterbringung kommt Patricia, in der sie sich nicht wohlfühlt. Alle rauchen, alle trinken, viele nehmen Drogen, einige sind kriminell. Patricia schottet sich ab. „Die, mit denen du dich abgibst – so wirst du auch“, sagt Patricia.
Dieses Denken unterscheidet sie von anderen, und das ist Teil ihres erstaunlichen Wandels. Diejenigen, mit denen Kinder und Jugendliche sich identifizieren können, beeinflussen tatsächlich zu einem großen Teil ihre Chancen im späteren Leben. Das sagt Erziehungswissenschaftler Benjamin Strahl von der Universität Hildesheim. Hier sitzt der einzige Lehrstuhl deutschlandweit, dessen Forscher sich Kindern in der Erziehungshilfe widmen.
Die Bildungschancen von Heimkindern sind so gut wie nicht erforscht. „Das liegt vor allem daran“, sagt Strahl, „dass Erziehungshilfen zumindest gesetzlich keinen expliziten Bildungsauftrag haben.“ Entsprechend werden schulische Erfolge in Statistiken auch nicht erfasst. Zumal die Zuständigkeiten unterschiedliche sind: Jugendhilfe liegt in der Hand des Sozialministeriums, Bildung in der des Bildungsministeriums. Kooperationen sind nicht vorgesehen.
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Ein Teil Lernen: Das Fach-Abi machte Patricia mit 1,8 – das Abitur auf dem Berufskolleg verspricht ähnlich gut zu werden.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Die letzten verwertbaren Daten zu Jugendlichen der Erziehungshilfe stammen aus dem Jahr 2005. An ihnen wird deutlich, dass außerhäuslich untergebrachte Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren deutlich seltener höhere Schulformen wie Real- und Gesamtschule oder das Gymnasium (rund ein Viertel) besuchen als Kinder, die in ihren Familien leben (rund drei Viertel).
Das hat Strahl zufolge mehrere Gründe: Erstens erfuhren außerhäuslich untergebrachte Kinder vor der Aufnahme ins Heim häufig weniger Förderung als andere. Zweitens sind viele Jugendliche mit der Aufarbeitung ihrer familiären Probleme so beschäftigt, dass die Schule für sie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Drittens wechseln viele Kinder aus schwierigen Familien häufig Wohnungen und Schulen, und auch nach dem Verlassen der Familie sind Ort- und Schulwechsel keine Seltenheit. Verlässlichkeit? Gibt es nicht. So lebte auch Patricia zunächst in drei Unterbringungen, ehe sie an den Ort kam, an dem ihre Befreiung begann.
Ein Ort, der Stabilität schenkt
Der Strüverhof, eine Einrichtung der Jugendhilfe im Raum Dortmund, abgeschieden zwischen Feldern und noch mehr Feldern. Nur zwei Busse täglich binden diesen Ort im Ruhrpott-Nirwana an die Außenwelt an. Bis zu 47 Jugendliche leben hier in Wohngruppen und WGs. Wildes Treiben bietet ihnen dieser Ort nicht. Aber Stabilität. Und die ist laut Wissenschaftler Strahl eine der wichtigsten Bedingungen für gute Entwicklungschancen.
Auf dem Strüverhof nun sammelt Patricia endlich Menschen um sich, denen sie vertrauen kann. Freunde.
Zu Hause wusste sie nie, ob ihr Verhalten falsch oder richtig war, auf dem Stüverhof sind die Regeln eindeutig. Gutes Benehmen bedeutet Lob, schlechtes Benehmen Sanktionen. Planbar und berechenbar. „Ich habe hier immer nach dem Motto gelebt: Halt dich an die Regeln und du hast deine Freiheiten.“
Klare Regeln – gute Regeln
So verdiente Patricia sich ihre längeren Ausgänge, ihre Wochenendausflüge und die Pflege der Pferde. Der Strüverhof hält sechs Ponys und einen Esel für reittherapeutische Angebote. Am Wochenende geht Patricia nach ihren Pferden schauen, vor dem Einschlafen ebenso. Mit ihnen kuschelt Patricia, mit ihnen schafft sie sich Ausgleich und Stabilität, die ihr übrigens auch die Schule gibt. Denn dort gelten ebenfalls klare Regeln, mit denen Patricia umzugehen weiß. Sie ist erfolgreich in der Schule, wird sogar immer besser.
Nach der mittleren Reife kommt die Frage nach dem „Wie weiter“. Abitur – ja oder nein? Der Vater verbietet es. Zumindest statistisch ist das nicht ungewöhnlich. So empfehlen Eltern aus niedriger gebildeten Haushalten ihren Kindern niedrigere Bildungsabschlüsse, auch wenn ihre Kinder hervorragende Leistungen zeigen, während Akademikereltern ihre Kinder selbst dann zu hohen Schulabschlüssen triezen, wenn sich ihre Kinder in der Schule schwertun.
Ein Zuhause mit Verspätung
Patricia entscheidet sich trotzdem fürs Abitur. Ihr Fach-Abi absolviert sie mit 1,8, gerade macht sie Vollabitur und eine Ausbildung zur Erzieherin gleichzeitig. Ihr Abschluss dürfte ähnlich gut geraten.
Grund für Patricias Entscheidungen sind Personen, die sie stützten. Es brauche Menschen im Leben eines Jugendlichen, die ihm die richtigen Anreize vorlebten, sagt Erziehungswissenschaftler Strahl. Die Mutter einer Freundin zeigte Patricia, dass sie den Mut haben kann, sich gegen ihre Stiefmutter aufzulehnen. Eine Schulsozialarbeiterin zeigte ihr, wie sie selbstbewusst für ihre Ziele einsteht, ein Mitarbeiter des Jugendamts, wie man sich auch gegen Autoritäten für Gerechtigkeit einsetzen kann. Eine Psychologin, wie sie ihre Schuldgefühle verliert. Ihr erster Freund, was Freiheit bedeutet.
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Ein Teil Job: Auf dem Markt verdient Patricia das nötige Geld für das Leben in einer Bauernhof-WG, für den Motorradführerschein – und für den Schulbesuch.
© Quelle: Jacqueline Schulz
Patricia ist mittlerweile 21, lebt in ihrer eigenen WG, wieder auf einem Bauernhof. Menschen jeden Alters leben dort. Sie fühlt sich wohl an diesem Ort. Was sie braucht, erledigt Patricia allein. Das nötige Geld verdient sie sich auf dem Stadtmarkt, gerade hat sie den Motorradführerschein gemacht. Wenn alles gut geht, bekommt sie ein Anerkennungspraktikum auf Gran Canaria. Nach dem Abitur will Patricia studieren.
Vorher jedoch wird sie auf den Strüverhof zurückkehren, dieses Mal für ein Praktikum in der Reittherapie. „Die Zeit in der Wohngruppe ist der schöne Teil meines Lebens“, sagt Patricia. „Und als ich das erste Mal wieder hier war, habe ich gemerkt, dass es ein bisschen auch mein Zuhause war.“
„Das wird ein unschöner Abend“
Der Strüverhof ist vorbereitet auf den Heiligen Abend. „Weihnachten ist die schwierigste Zeit des Jahres“, sagt Irmgard Wiek, die Leiterin der Einrichtung. „Da kommen bei allen die Emotionen hoch. Besonders schlimm ist es, wenn Jugendliche erst damit protzen, was sie dieses Jahr alles bekommen werden – und dann holen sie ihre Eltern nicht mal ab. Da müssen wir viel beschwichtigen.“
Patricia wird den Abend erstmals wieder bei ihrer Familie verbringen. „Das wird unschön“, sagt sie. Aber es hat sich etwas verändert an diesem Weihnachtsfest. Patricia ist jetzt eine selbstbewusste Frau. Eine, die ihr Leben auf die Reihe bekommt. Die schon jetzt erfolgreicher ist, als ihre Stiefmutter es je war. Eine, die weiß, dass sie nie schuldig war.
Vielleicht wird Weihnachten dieses Jahr nicht sonderlich schön, aber Patricia wird an diesem Tag mit sich im Reinen sein.
* Patricia heißt nicht wirklich Patricia. Zu ihrem Schutz verzichtet die Redaktion auf ihren Klarnamen.
Von Julius Heinrichs/RND