Nato-Erweiterung: Warum Erdogan seine Zustimmung plötzlich an einen Journalisten knüpft
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/UVQ4ND35FJBPZDUQPWXJSWH24A.jpg)
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
© Quelle: IMAGO/Depo Photos
Bülent Kenes saß gerade in Stockholm mit seiner Familie beim Abendessen, als er in den Fernsehnachrichten seinen Namen hörte – aus dem Mund des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der trat am vergangenen Dienstagabend in Ankara gemeinsam mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson vor die Presse. Kristersson war in die türkische Hauptstadt gekommen, um mit Erdogan über den Beitritt seines Landes zur Nato zu verhandeln. Der scheitert bisher an Erdogans Einspruch. Der Staatschef verlangt von Schweden die Auslieferung von 73 türkischen Exil-„Terroristen“, darunter Funktionäre und Sympathisanten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der linksradikalen Untergrundbewegung DHKP-C, Anhänger der Bewegung seines Erzfeindes Fethullah Gülen, aber auch Bürgerrechtler und Regierungskritiker.
In der Pressekonferenz mit Kristersson nannte Erdogan erstmals einen der Gesuchten namentlich. Man könne über die Zahl der auszuliefernden „Terroristen“ diskutieren, „ob es nun 30 sind oder 100″, sagte Erdogan. „Aber die Deportation des Terroristen namens Bülent Kenes ist für uns von Bedeutung“, so der Staatschef. Das könnte heißen: Ohne die Auslieferung von Kenes gibt es keinen Beitritt, egal, wen Schweden sonst überstellt. Oder es könnte bedeuten: Schweden braucht nur Kenes auszuliefern, und schon würde sich die Tür zur Allianz öffnen. So oder so: Bülent Kenes ist zur Schlüsselfigur im Tauziehen um die Nato-Norderweiterung geworden.
Kenes war Chefredakteur einer regierungskritischen Zeitung
Der 53-Jährige lebt seit über sechs Jahren mit seiner Frau und zwei Kindern in Stockholm. Der Politologe, Buchautor und frühere Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Today‘s Zaman“ verließ die Türkei nach dem Putschversuch gegen Erdogan vom 15. Juli 2016 und fand in Schweden Zuflucht. Kenes entzog sich damit seiner drohenden Verhaftung, denn die Zeitung „Zaman“ (Zeit) und ihre englischsprachige Ausgabe „Today‘s Zaman“ wurden der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet.
Der seit 1999 im selbstgewählten Exil in den USA lebende Gülen und Erdogan waren früher enge Verbündete. Aber wegen des wachsenden Einflusses der Gülen-Bewegung in der staatlichen Verwaltung, im Bildungswesen, in der Justiz und im Sicherheitsapparat kam es vor zehn Jahren zum Bruch. Erdogan sieht in Gülen den Drahtzieher des Putschversuchs vom Sommer 2016. Seine Bewegung gilt als Terrororganisation, in der Türkei bekannt unter der Abkürzung „Fetö“. Der 81-jährige Gülen, der im US-Bundesstaat Pennsylvania lebt, bestreitet die Vorwürfe.
Kenes widerspricht jeder Verstrickung in die Putschpläne
Auch Kenes weist jede Verwicklung in die Umsturzpläne zurück. „Ich bin doch nicht dumm, ich habe nichts damit zu tun“, sagte er der schwedischen Nachrichtenagentur SVT Nyheter. Aber er ist beunruhigt. „Ich mache mir Sorgen, dass die Verhandlungen zwischen der neuen schwedischen Regierung und dem islamofaschistischen, despotischen Erdogan-Regime mein Auslieferungsverfahren beeinflussen könnten“, sagt Kenes. Schweden hat der Türkei zugesagt, die Auslieferungsersuchen „schnell und sorgfältig zu bearbeiten“.
Der konservative Premier Kristersson, der von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten gestützt wird, versicherte diese Woche in Ankara, Schweden werde „gegenüber der Türkei alle Verpflichtungen bei der Bekämpfung des Terrorismus erfüllen, bevor es Mitglied der Nato wird“. Sein Gespräch mit Erdogan bezeichnete er als „sehr produktiv“. Die schwedische Opposition sieht bereits einen „Kniefall“ der neuen Regierung vor Erdogan. Die Entscheidung über eine Auslieferung liegt bei der Justiz. Bisher gilt die Gülen-Bewegung, anders als die auch in der EU und den USA geächtete PKK, außerhalb der Türkei nicht als Terrororganisation. Aber kommende Woche soll das schwedische Parlament über eine Verfassungsänderung zur Verschärfung der Antiterrorgesetze abstimmen – eine der Forderungen Ankaras. Damit könnte sich auch die Rechtslage für Auslieferungen verändern.
Putin schlägt Türkei neue Pipeline vor
Der russische Präsident Putin schlug daher vor, in der Türkei einen Knotenpunkt für Gaslieferungen in die EU aufzubauen.
© Quelle: Reuters
Deportiert Schweden Kenes in die Türkei, wäre das ein Präzedenzfall
Bisher hat Schweden erst einen Gesuchten an die Türkei ausgeliefert. Dabei ging es aber nicht um politische Straftaten oder angebliche „Terror“-Delikte, sondern um Kreditkartenbetrug. Deportiert Schweden Kenes nun in die Türkei, wäre das ein gravierender Präzedenzfall. In vielen europäischen Ländern leben Hunderte türkische Journalistinnen und Journalisten, Bürgerrechtler und Intellektuelle, denen wegen regierungskritischer Äußerungen in ihrer Heimat langjährige Haftstrafen drohen. Wie schnell es dabei um Terrorvorwürfe gehen kann, zeigt der Fall des Kulturförderers Osman Kavala, den ein Gericht in Istanbul im April wegen angeblichen „Umsturzversuchs“ zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit auf Begnadigung oder vorzeitige Entlassung verurteilte. Das Urteil gilt als eine Art Blaupause für Strafverfahren gegen Regierungskritiker.
Kenes ist als international angesehener Publizist und Politologe für Erdogan ähnlich gefährlich wie Kavala. Deshalb will er ihn zum Schweigen bringen. Die Erdogan-treue Zeitung „Sabah“ veröffentlichte kürzlich heimlich geschossene Fotos von Kenes und die Adresse der Wohnung, in der er mit seiner Familie in Stockholm lebt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Spione des türkischen Nachrichtendienstes MIT Erdogan-Kritiker in anderen Ländern beschatten. Es gab sogar mehr als ein Dutzend Fälle, in denen MIT-Agenten Exiltürken im Ausland entführten und in die Türkei brachten. Vor allem mutmaßliche Gülen-Anhänger wurden so verschleppt. Erdogan persönlich rechtfertigte die Entführungen: „Wir werden solche Operationen durchführen, wo auch immer sich Fetö-Anhänger aufhalten“, sagte er 2018.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/EZHJQQG67RD4LOGG3ATC7MQUTQ.jpg)
Hauptstadt-Radar
Der Newsletter mit persönlichen Eindrücken und Hintergründen aus dem Regierungsviertel. Immer dienstags, donnerstags und samstags.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Kenes glaubt an Schwedens Rechtsstaat
Bülent Kenes gibt sich dennoch zuversichtlich. „Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin daran, dass Schweden ein Rechtsstaat ist“, sagte er in einem Interview. Er beteuert seine Unschuld: „Ich habe nichts weiter getan, als Zeitungsartikel, Kommentare und wissenschaftliche Schriften zu verfassen“, sagt er, „mit Terrorismus oder Gewalt habe ich nichts zu tun.“ In Schweden habe der Respekt für die Menschenrechte und die Freiheit einen hohen Stellenwert, so Kenes. „Ich vertraue deshalb darauf, dass Schweden mich beschützen wird.“
Damit wird der Fall Kenes zu einem Prüfstein für die schwedische Justiz und die neue konservative Regierung in Stockholm. Darauf weist jetzt auch das in New York ansässige Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hin, eine Organisation, die sich weltweit der Verteidigung der Pressefreiheit verschrieben hat und die Rechte von Journalisten verteidigt. Gulnoza Said, die für Europa und Zentralasien zuständige Koordinatorin des CPJ, warnt: „Unter keinen Umständen darf Schweden der Forderung der Türkei nachgeben, Bülent Kenes zu deportieren.“ Wenn Schweden ihn dennoch ausliefere, könne es „sich nicht länger einen demokratischen Rechtsstaat nennen“, meint Said.