Notfallmedikament für Thüringen: R2G plus C
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Starker Regen fällt vor der CDU Zentrale, dem Konrad-Adenauer Haus.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Thüringen wird gerade ein bisschen überschätzt. In Erfurt, Gotha, Weimar und den Wäldern drum herum leben nur 2,1 Millionen der insgesamt 82,8 Millionen Einwohner der Bundesrepublik. Das sind 2,5 Prozent der Deutschen. Wie lange noch soll ein Streit um Probleme in Thüringen ganz Deutschland lähmen, die wichtigste Industrienation Europas? Es ist jetzt Zeit für eine Lösung.
Natürlich kann man sagen: In Thüringen geht es um Fragen der politischen Kooperation unter Parteien – und damit um Prinzipien.
Tatsächlich ist ja inzwischen in dem kleinen Land zumindest eine erste große Frage geklärt worden. CDU und FDP haben nach diversen Blessuren eingesehen, dass keine Kooperation infrage kommt mit einer Partei, deren oberste Repräsentanten den Nationalsozialismus als “Vogelschiss in der Geschichte” runterspielen. Deshalb sind die Tage des Regierungschefs Thomas Kemmerich gezählt. Der Liberale hatte sich verstiegen zu einem Weg, auf dem es einfach nicht mehr weitergeht.
Aber gerade weil dies so ist, müssen alle Beteiligten die damit entstandene neue Lage im Land klar ins Auge fassen.
Zur redlichen Betrachtung der Dinge gehört, dass jetzt nicht auch noch ein kategorisches Nein der CDU in Richtung Linkspartei folgen kann. Denn im Erfurter Landtag muss man nun mal aus rechnerischen Gründen entweder die Linke oder die AfD einbinden, selbst wenn man den Landtag nur auflösen will – sonst gibt es einfach keine funktionierenden Mehrheiten. Schuld daran ist nicht irgendein finsterer Feind der CDU, sondern Adam Riese. In der jetzigen Lage auf einem Nein zu beiden Seiten zu beharren, wäre nicht Prinzipientreue, sondern Obstruktion.
Ein erster Schritt zur Beruhigung wäre erreicht, wenn die Bundes-CDU endlich aufhören würde, an der Krise in Erfurt herumzudoktern. Schon die scheidende Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat an dieser Stelle alles nur noch schlimmer gemacht. Ihre Einmischung hat zunächst den Thüringer Parteifreunden geschadet – und am Ende ihr selbst. Zuletzt konnte sich weder AKK im Sattel halten noch der Thüringer Landesvorsitzende Mike Mohring. So sieht es aus, wenn aus Prinzipientreue Prinzipienreiterei wird und diese dann zum heillosen Rodeo ausartet.
Statt endlich die Dinge zu beruhigen, steigerten am Wochenende Jens Spahn und Friedrich Merz durch donnernde Warnungen an die Adresse der Thüringer Parteifreunde erneut das Drama. Doch wer glaubt ernsthaft daran, dass es diesen beiden im Kern um die genaue Art und Weise geht, wie künftig 2,5 Prozent der Deutschen regiert werden? Sie wollen im parteiinternen Gerangel um die AKK-Nachfolge Punkte sammeln in konservativen Kreisen ihrer CDU.
Dabei gäbe es fünf gute Gründe für die Bundes-CDU, sich endlich rauszuhalten aus Thüringen:
<b>1. Das Verfassungsrecht achten</b>
Keineswegs sind die 16 Landesparlamente in Deutschland nur kleine Spielfelder, auf denen alle Abgeordneten nach der Pfeife der Führung ihrer Bundespartei tanzen. Dagegen spricht erstens die Eigenstaatlichkeit der Länder und zweitens die Freiheit des Mandats, zwei Prinzipien des Grundgesetzes, die leider immer mehr in Vergessenheit geraten. Niemand kann einem gewählten Abgeordneten Aufträge oder Weisungen geben, in Thüringen verbietet das Artikel 53 der Landesverfassung. Deshalb muss man, wenn vier einzelne CDU-Abgeordnete oder mehr Bodo Ramelow am 4. März im ersten Wahlgang unterstützen, dieses Ergebnis schlicht und einfach akzeptieren.
<b>2. Der Staatsräson folgen</b>
Würde die CDU im Erfurter Landtag auf Dauer jedes Zusammenwirken mit der Linkspartei ausschließen, entstünde eine umfassende Blockadesituation. Die AfD hätte dann im Ergebnis eine Art Sperrminorität. Dies wäre nicht Politik, sondern die Verweigerung von Politik, ein ethischer wie staatspolitischer Irrweg. Wer die schlichten Spiegelstrichbeschlüsse der Bundes-CDU zackig umsetzen will, wird dieser komplizierten und besonderen Lage nicht gerecht.
<b>3. Die Mitte stärken</b>
Je länger und je heftiger sich die Christdemokraten über Thüringen streiten, umso stärker wird der Eindruck von Lähmung und Entscheidungsunfähigkeit in der politischen Mitte. Besser wäre es, einer Minderheitsregierung von Rot-Rot-Grün selbstbewusst einen eigenen Stempel aufzudrücken und für deren projektbezogene Duldung Bedingungen zu stellen. Erste Pläne kursieren ja schon: mehr Polizei, neue Einrichtungen zum Gedenken an DDR-Unrecht. Genau hier liegt das Gegenmittel gegen den Stillstand: R2G plus C.
<b>4. Den Sonderfall anerkennen</b>
Bodo Ramelow, der frühere und mögliche neue Ministerpräsident, ist kurioserweise vom Typ her sogar christlicher, bürgerlicher und konservativer als der durchschnittliche CDU-Wähler. Diesen Sonderfall muss eine pragmatische Politik anerkennen. Mit einem solchen Mann zumindest zeitlich befristete “Stabilitätsvereinbarungen” zu treffen, bedeutet keine Aufgabe von Grundwerten, sondern kann im Gegenteil als Maximierung des Einflusses der Union in einer für sie extrem schwierigen Lage gedeutet werden.
Politik ist und bleibt die Kunst des Möglichen. In Baden-Württemberg sind die Christdemokraten sogar den früher undenkbaren Schritt gegangen, sich einem grünen Ministerpräsidenten als Juniorpartner einer regulären Koalition unterzuordnen. Auch hier spielte, in Gestalt von Winfried Kretschmann, die Persönlichkeit des Regierungschefs eine Rolle.
<b>5. Die Chance sehen</b>
Eine kluge Politik vermeidet Erstarrungen aller Art. Lange hat die CDU Koalitionen mit den Grünen für undenkbar gehalten, heute ist dies ihre bundespolitische Machtoption Nummer eins. Gewiss, die DDR-Vergangenheit bleibt für jede Art von Zusammenarbeit zwischen CDU und Linkspartei das zentrale Hindernis, eins von gigantischem Format. Zugleich aber liegt gerade hier auch eine gigantische Chance. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wäre, wenn man es klug anstellt, ein zweiter Mauerfall möglich. Spahn und Merz werden dabei nicht behilflich sein, das ist klar.
Auf der Suche nach ethisch grundierter Orientierung sollte die CDU eher Leute fragen, die nichts mehr werden wollen, Joachim Gauck zum Beispiel oder Bernhard Vogel. Beide waren nie Kommunistenfreunde. Aber sie werden sich, schon mit Blick auf Land und Leute, viel konstruktiver äußern als die Eiferer, die jetzt gerade das große Wort führen.