NSU-Opferanwältin Başay-Yıldız: „Merkel hat ihr Versprechen gebrochen“
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Seda Başay-Yldiz in ihrem Büro.
© Quelle: Boris Roessler/dpa
Berlin. Frau Başay-Yildiz, Sie waren Nebenklageanwältin im NSU-Prozess – und Sie sind bedroht worden vom sogenannten NSU 2.0. Nachdem die Staatsanwaltschaft Frankfurt gegen einen Mann Anklage erhoben hat, schrieben Sie: „Ich erwarte keine weitere Aufklärung in diesem Fall. Ich habe damit abgeschlossen.“ Hatten die Behörden Interesse an Aufklärung? Und können Sie wirklich damit abschließen, wenn Sie und Ihre Tochter wiederholt Morddrohungen erhalten haben?
Es gab ein Interesse an Aufklärung, zumindest als das Landeskriminalamt Hessen ein halbes Jahr später die Sache übernommen hatte. Aber es ist zu Beginn der Ermittlungen einfach zu viel schiefgelaufen. Die ursprünglich ermittelnde Frankfurter Polizei wollte die Sache kleinhalten. Frankfurter Kollegen haben gegen Kollegen ermittelt. Das ist unprofessionell. Der Fall hätte umgehend an das Landeskriminalamt abgegeben werden müssen. Ich erwarte jedenfalls keine weitere Aufklärung mehr in diesem Fall.
Insbesondere die Abfrage unserer Daten im 1. Polizeirevier in Frankfurt wird wahrscheinlich nie aufgeklärt werden. Das ist sehr bedauerlich, auch für die Polizei. Dass eine Person aus Berlin sich als Polizist ausgegeben und die Kollegen in Frankfurt „ausgetrickst“ haben soll, erscheint mir nicht plausibel. Welcher dienstliche Anlass soll vorgegeben worden sein, um die Daten einer Zweijährigen und einer gesamten Familie abzufragen, und wie ist die gesperrte zweite Adresse, die nicht telefonisch abrufbar ist, in Umlauf gekommen?
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Ich muss irgendwann mit solchen Sachen auch abschließen. Das kann ich. Ich schließe auch beruflich Fälle ab. Aber wir haben aktuell immer noch eine private Bedrohungssituation. Das ist nicht schön. Ich habe eine Familie, ich bin beruflich viel unterwegs, aber damit müssen wir jetzt auch lernen umzugehen.
Diese Person, also der Drohschreiber, selber war auch nicht das Problem. Es war mir irgendwann schon klar, dass der nur schriftliche Drohungen verschickt. Es ist uns ja nichts passiert in den Jahren. Aber er hat auch, zuletzt am 19. Februar, meine privaten Daten im Darknet veröffentlicht und dann zum Mord an mir aufgerufen. Ich kann ja nicht ständig umziehen. Ich muss nach wie vor damit rechnen, dass irgendwann mal irgendjemand vor meiner Tür steht, weil er vielleicht nicht an andere herankommt. Das ist keine schöne Situation.
Als sich vor zehn Jahren die Terrorzelle NSU selbst enttarnte, „ging etwas kaputt“, haben Sie einmal gesagt. Was war das genau?
Die Ermittler sind bei keinem einzigen Mord des NSU auf die Idee gekommen, dass hier Rechtsterroristen Menschen umgebracht haben könnten. Sie sind in jedem der Mordfälle mit rassistischen Handlungs- oder Denkstrukturen an die Sache herangegangen. Das hat mich schockiert.
Um ein Beispiel im Fall Enver Şimşek zu nennen: Er hat Blumen verkauft. Die Polizei hat mit Drogenspürhunden seinen Transporter, sein Geschäft, seine Wohnung durchsucht. Es gab keine Hinweise auf Drogen, gar nichts. Er war noch nie mit Drogen aufgefallen. Im ersten Vermerk stand aber: Es kommt in Betracht, dass organisierte Kriminalität, Drogenhandel eine Rolle spielen. Als Strafrechtlerin habe ich mich gefragt: Worauf beruhte diese Annahme? Sie beruhte auf nichts. Außer, dass sie gesagt haben, das Opfer ist ein Türke. Er muss irgendwie schuld daran sein, dass er umgebracht wurde. Entweder hat er mit Drogen zu tun gehabt oder es gibt einen Grund im privaten Bereich.
In allen anderen Fällen war es ähnlich, immer wurde ein Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, mit Drogenhandel angenommen. Nie gab es Anhaltspunkte, die diese Annahmen zweifellos gestützt hätten. Mir kann keiner erzählen, dass das nicht rassistisch war. Ich habe all diese Beamten im Prozess als Zeugen vor Gericht erlebt. Keiner hat den Eindruck erweckt, dass er aus den Fehlern gelernt hätte. Sie hatten überhaupt kein Unrechtsbewusstsein. Die Polizei hat in ihrer Gesamtheit keine Fehlerkultur, wirklich gar keine Fehlerkultur. Ich bin Anwältin, ich mache Fehler. Jeder Mensch macht Fehler. Dann muss ich doch mal mein Handeln hinterfragen können.
Ist Vertrauen verloren gegangen?
Ja, es ist viel Vertrauen verloren gegangen bei mir, bei meinen Mandanten, ich würde sagen, bei allen Deutschen mit Migrationsgeschichte, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Ich jedenfalls hätte das nicht für möglich gehalten. Es ist unglaublich wichtig, dass unser System funktioniert, und die Polizei ist nun mal eine wichtige Säule dieses Systems.
Die vielen rassistischen Chatgruppen in der Polizei haben gezeigt, dass Rassismus anscheinend als normal aufgefasst wird. Dazu kommen die Fälle von Extremismus in der Bundeswehr und in den Geheimdiensten. Ich mache mir Sorgen deswegen. Das muss mit aller Konsequenz geahndet werden. Unser Staat kann sich das nicht leisten. Wir sind alle vor dem Gesetz gleich, und wir haben alle denselben Anspruch, geschützt zu werden.
Würden Sie sagen, dass sich der Umgang mit migrantischen Kriminalitätsopfern bei der Polizei in den vergangenen zehn Jahren verändert hat?
Damit sich etwas ändert, muss man erst mal einsehen, dass man Fehler gemacht hat. Diese Aufarbeitung hat bei der Polizei aber nie stattgefunden. Es hat aber ein Umdenken in der Zivilgesellschaft stattgefunden. Das finde ich sogar noch viel wichtiger. Die Menschen in diesem Land sind sensibilisiert. Sie interessieren sich. Sie hinterfragen mehr. Journalisten waren ebenfalls unglaublich wichtig, weil sie die offenen Fragen im NSU-Verfahren in die Öffentlichkeit gebracht haben.
Welche der offenen Fragen sind für Sie am wichtigsten?
Für meine Mandanten am wichtigsten ist die Frage, welche Helfer es noch gab. Wie wurden die Opfer ausgewählt? Es gab unglaublich viele Ausspähnotizen, zum Beispiel aus Nürnberg. Es sind sehr viele detaillierte Informationen über Objekte, die von sehr guter Ortskenntnis zeugen. Die Tatorte waren teils etwas abgelegen, da kommt man nicht einfach so vorbei.
Der Generalbundesanwalt geht davon aus, dass Mitglieder des Trios einmal zum Ausspähen an die Tatorte gefahren sind und dann noch einmal zur Begehung der Tat. Das kann nicht alles sein. Mundlos und Böhnhardt hatten Kontakte nach Nürnberg, denen nicht nachgegangen wurde. Drei Morde wurden allein in Nürnberg begangen. Das soll alles Zufall sein? Über das Unterstützernetzwerk wissen wir im Prinzip gar nichts. Das wurde einfach nicht ermittelt.
Auch für den Verfassungsschutz ist diese Frage offen, es gäbe aber keine Hinweise, sagte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang gerade. Ist das so einfach?
Es gibt jede Menge Hinweise. Ich nenne Ihnen ein Beispiel von wirklich vielen: Ismail Yaşar wurde in Nürnberg umgebracht. Sechs Monate zuvor hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Jürgen F., der ein Rechtsextremer war. F. hat eine Statue vor dem Imbiss von Yaşar zerstört, der hat ihn angezeigt. F. wurde, weil er auch Vorstrafen hatte, zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat ohne Bewährung verurteilt. Diese Person hatte jedenfalls dokumentiert Kontakt zu Mundlos und anderen Neonazis der Thüringer Szene. Aber das BKA stellte fest, dass ein Zusammenhang nicht erkennbar sei. Aber Jürgen F. wurde nicht einmal befragt. Man hatte einfach kein Interesse.
Ist noch mit weiterer Aufklärung zu rechnen?
Das glaube ich nicht mehr. Wenn ein Prozess, der 438 Tage gedauert hat, mit so einer Öffentlichkeit nicht zur Aufklärung dieses Sachverhaltes beigetragen hat, dann wüsste ich jetzt nicht, was da jetzt noch kommen sollte. Nun, manchmal gibt es Zufälle.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat 2012 den Hinterbliebenen versprochen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären. Hat sie ihr Versprechen gebrochen?
Ja, sie hat ihr Versprechen gebrochen. Wir konnten so viele Punkte nicht aufklären, weil wir die Akten nicht bekamen oder weil Zeugen, besonders V-Leute, keine umfassende Aussagegenehmigung hatten. Immer hieß es dann: Das Geheimhaltungsinteresse des Staates überwiegt. Wenn man ein Aufklärungsversprechen gibt, wenn die Kanzlerin Aufklärung verspricht, dann gibt man alles frei. Zu Recht fragen sich die Familien: Was steht denn in diesen gesperrten Akten, was das Staatswohl gefährden könnte?