Presse zu Corona-Alleingängen: “EU hat Risiko falsch eingeschätzt"
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Viel Kritik an der EU kommt aus der internationalen Presse.
© Quelle: Alberto Pezzali/AP/dpa
Brüssel/Berlin. In der Coronavirus-Krise kann von freiem Reisen in Europa nicht mehr die Rede sein - etliche EU-Länder haben die Grenzen weitgehend dicht gemacht, nun auch Deutschland.
Seit Montagmorgen gibt es umfassende Kontrollen und Einreiseverbote an den Grenzen zur Schweiz, Österreich, Frankreich, Luxemburg und Dänemark. Zuvor hatten schon andere EU-Staaten die Grenzen weitgehend abgeriegelt, darunter Dänemark, Polen, die Slowakei, Tschechien und Österreich. Frankreich kündigte als Reaktion auf die deutschen Maßnahmen ebenfalls verschärfte Kontrollen an.
Viele internationale Medien sehen im Zuge der Grenzschließungen schwere politische Zeiten auf Europa zukommen. Vor allem die Europäische Union muss viel Kritik einstecken.
“Die EU hat das Risiko nicht richtig eingeschätzt”
Die polnische Wirtschaftszeitung Dziennik Gazeta Prawna übt Kritik am Verhalten der Europäischen Union:
"Schon wieder muss die EU aus einer Entwicklung Konsequenzen ziehen. Unabhängig davon, ob sie überhaupt die Möglichkeit gehabt hätte, mehr für Italien zu tun - den schlechten Eindruck im am stärksten von Coronavirus gebeutelten EU-Land wird sie so schnell nicht wieder los. Die fehlende Antwort auf die Hilferufe aus Rom sind für Euroskeptiker ein weiteres Beispiel dafür, dass in Krisensituationen jedes Land alleine ohne Rücksicht auf die anderen entscheidet, und Brüssel nicht viel machen kann.
Die Wahrheit ist, dass auch die EU das Risiko nicht richtig eingeschätzt hat. Ihre Führer haben sich in den vergangenen Wochen auf die Migrationsfrage konzentriert. Weil sie aus der Erfahrung vor fünf Jahren gelernt haben, befassten sie sich vor allem mit der wachsenden Zahl der Migranten an der griechisch-türkischen Grenze, während eine beispiellose Bedrohung an anderer Stelle erwuchs. Brüssel ist SARS-CoV-2 nicht zuvorgekommen - aber schließlich hat das niemand geschafft. Noch vor einigen Wochen hielten nur wenige in Europa das Coronavirus für eine echte Bedrohung. Man hat es - ähnlich wie Zika-Fieber, Ebola oder SARS - als exotische Krankheit betrachtet, die uns nicht betrifft."
“Die Deutschen entdecken den Pragmatismus”
Die Neue Zürcher Zeitung zeigt sich überrascht vom Pragmatismus der Deutschen:
“Was Seehofer am Sonntag verkündete, hätte vor wenigen Wochen wohl noch keiner für möglich gehalten. Grenzen haben in Deutschland keinen guten Ruf; auf ihrer Bedeutung zu beharren, gilt vielen bereits als Verrat an der europäischen Sache. Ausländische Politiker wie der britische Premierminister Boris Johnson, die auf einen souveränen, seine Grenzen kontrollierenden Nationalstaat setzen, haben in der deutschen Öffentlichkeit keinen guten Leumund. Umso bemerkenswerter ist, dass Kritik an Seehofers Maßnahme am Sonntag auf den Internetportalen der großen deutschen Medien weitgehend ausblieb. Auch daran zeigt sich, welch einschneidendes Ereignis die Corona-Krise ist: Angesichts der Seuche entdecken die Deutschen den Pragmatismus.”
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Das Virus hat die Heucheleien zerschlagen
Die italienische Zeitung La Repubblica kritisiert, dass Gesundheitshilfe für Italien leichter aus China käme als von “misstrauischen europäischen Freunden”:
“Es ist kein triviales Ereignis, dass Deutschland angesichts der Plage seine Grenzen schließt und Kontrollen wie zur Zeit der Nationalstaaten durchsetzt. Weil diese Wahl genau den Grundwerten widerspricht (...), auf der die Europäische Union aufgebaut werden sollte. (...) Die Schließung von Schengen hat Berlin im Alleingang nach nationaler Logik beschlossen. Sie wurde nicht mit Partnern diskutiert, sie wurde nicht auf die Außengrenzen der Union beschränkt. Man zog es vor, jede einzelne Grenze zu reaktivieren, um die unruhigen Wähler zu besänftigen. Währenddessen kommt die Gesundheitshilfe für Italien leichter aus dem klugen China als von misstrauischen europäischen Freunden. Das Virus hat die Heucheleien zerschlagen - es bleibt nur noch die Rhetorik.”
Auch die niederländische Zeitung de Volkskrant kommentiert am Samstag den Flickenteppich im Kampf gegen die Corona-Pandemie in Europa und spricht von einem “totalen Mangel an europäischer Koordination”:
"Der totale Mangel an europäischer Koordination, der diese Woche so deutlich zutage getreten ist, ist besorgniserregend. Das niederländische Kabinett folgt zu Recht dem Rat seiner eigenen Experten. Das tun aber auch die anderen europäischen Regierungen. Doch bei der Behandlung von "Patient Europa" gibt es unerklärbare Unterschiede.(...)
Unterdessen betonen die europäischen Regierungschefs immer wieder, dass ein Virus sich nicht an nationale Grenzen hält, aber sie vergessen, dass dies auch für Berichte über die Bekämpfung des Virus gilt. Mit ihrem Flickenteppich von Maßnahmen droht nun die Gefahr eines Wettrennens darum, wer am resolutesten auftritt."
Pandemie wird zur Belastungsprobe für Europa
Nach der Ausrufung des Notstands und der Verkündung eines Einreisestopps für Reisende aus Deutschland und anderen EU-Staaten in Tschechien schreibt die linksgerichtete Zeitung Pravo aus Prag, Nationalismus und Protektionismus seien im Aufwind:
“Zu der globalen Pandemie (des neuartigen Coronavirus) kommt es zu einer Zeit, in der die internationale Ordnung bereits in der Krise steckt. Wir sind seit längerem Zeugen ihrer systematischen Schwächung. Nationalismus und Protektionismus sind im Aufwind. Die Epidemie könnte diese Tendenzen noch verstärken. Auch aus diesem Grund ist sie eine große Belastungsprobe für die Europäische Union. Wird die EU in der Lage sein, koordinierte und einheitliche Maßnahmen zu ergreifen, die nicht durch Grenzen sowie bürokratische und politische Hindernisse beschränkt sind? Bislang muss man daran ernste Zweifel haben, denn es sieht danach aus, dass die Mitgliedstaaten eher auf eigene Faust handeln.”
Jedes EU-Land denkt bei Corona-Krise nur an sich
Mit dem Agieren der EU angesichts der Coronavirus-Epidemie befasst sich auch die konservative polnische Zeitung Rzeczpospolita am Freitag:
"Erst am vergangenen Dienstag, viele Wochen nach dem ersten Auftreten des Coronavirus in den EU-Mitgliedsstaaten, kamen die Staats- und Regierungschef der 27 Länder in einer (...) Videokonferenz zusammen, um eine gemeinsame Strategie für ihr Handeln auszuarbeiten. Aber das war nicht möglich. Bei den Ergebnissen der Gespräche fehlten die wichtigsten Punkte: Gemeinsame Regeln für Massenveranstaltungen, für die Isolierung der Kranken, für die Verteilung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten unter den EU-Ländern sowie für die Entwicklung benötigter Medikamente.
Weil Brüssel nicht führt, will jedes Land lieber die eigenen Bürger schützen, als an die anderen zu denken. So haben Deutschland und Tschechien ein Exportverbot für pharmazeutische Produkte erlassen, die zur Bekämpfung des Coronavirus nötig sind. Auf den Ruf Italiens (...) nach einer Abgabe von Schutzmasken und Beatmungsgeräten hat kein einziges EU-Mitgliedsland reagiert. Rom ist deshalb jetzt auf versprochene Hilfe von China angewiesen."
RND/dpa/ms