Presse zum Brexit-Handelsdeal: „Großbritannien hat einen saftigen Preis gezahlt“

Die internationale und nationale Presse blickt nuanciert, aber vornehmlich mit Erleichterung auf die Brexit-Handelsübereinkunft. Und doch sehen die Kommentatoren bei dem Deal eher keine Sieger.

Die internationale und nationale Presse blickt nuanciert, aber vornehmlich mit Erleichterung auf die Brexit-Handelsübereinkunft. Und doch sehen die Kommentatoren bei dem Deal eher keine Sieger.

Berlin. Viele hatten sich womöglich bereits auf ein Scheitern eingestellt. Ausgerechnet am Heiligabend kam sie dann aber doch noch, die Einigung zwischen Großbritannien und EU über einen Brexit-Handelsdeal. Die internationale und nationale Presse blickt nuanciert auf die Übereinkunft. Die Kommentatoren äußern sich zwar weitgehend erleichtert über ein Zustandekommen des Deals, sehen dabei jedoch eher keine Sieger.

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Für die Londoner „Times“ ist es ein „Quell der Erleichterung“, doch zugleich ein „Deal ohne Sieger“:

„Endlich. Am Ende eines Jahres, in dem es kaum gute Nachrichten gab, ist Boris Johnsons Verkündung eines Deals über die künftigen Beziehungen mit der Europäischen Union eher ein Quell der Erleichterung als ein Grund zum Feiern. Dass überhaupt ein Deal erreicht wurde, ist in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Leistung. Normalerweise wird über derartige Abkommen jahrelang verhandelt; dieses wurde in neun Monaten erreicht und das während einer globalen Pandemie, die über weite Teile des Jahres persönliche Treffen verhinderte. Mehr noch: Handelsabkommen sind normalerweise darauf angelegt, die beiden beteiligten Seiten einander näher zu bringen; dieses ist das erste in der Geschichte, das es ihnen ermöglichen soll, sich weiter auseinander zu entwickeln. Das bedeutet, dass dies unweigerlich ein Deal ohne Sieger und mit politischen und wirtschaftlichen Kosten ist, die von beiden Seiten zu tragen sein werden.“

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Die getrübte Vision einer vollkommenen Souveränität, meint der Londoner „Guardian“ am Freitag:

„Es kann kein Handelsabkommen geben, ohne dass die von den Brexit-Ideologen gehegte Vision einer vollkommenen Souveränität irgendwie getrübt wird. Dieses Zugeständnis wird im Kleingedruckten versteckt sein. Und Boris Johnson wird sein gesamtes rhetorisches Arsenal und seine Fähigkeit zu politischen Ablenkungsmanövern einsetzen, um sein Abkommen als eine Charta der heroischen nationalen Emanzipation zu präsentieren. Dabei hilft ihm, dass die Zeit, die für die Ratifizierung zur Verfügung steht, knapp ist. Das Parlament wird zurückgerufen, aber Hunderte von Seiten der technischen Vereinbarung können nicht mehr bis zum Ende nächster Woche durchdacht werden. Der verkürzte Zeitplan lässt wenig Spielraum für eine Entscheidung zwischen den Optionen Ablehnung und Billigung. Ersteres wäre katastrophal, Letzteres gibt die demokratische Kontrolle preis. Aber das ist keine Überraschung. Das ist die Art und Weise, wie Boris Johnson Geschäfte macht.“

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Der Londoner „Independent“ kommentiert, das Abkommen „sollte nicht über diesen Moment der nationalen Selbstbeschädigung hinwegtäuschen“:

„Die Erleichterung darüber, dass endlich ein Abkommen zustande gekommen ist, sollte nicht über diesen Moment der nationalen Selbstbeschädigung hinwegtäuschen. Wie der EU-Chefunterhändler Michel Barnier uns in Erinnerung rief, ist es für Großbritannien und das übrige Europa traurig, die unbegrenzte Freiheit zu arbeiten, zu studieren und Handel zu treiben, die für den größten Teil des vergangenen halben Jahrhunderts bestand, mit dem zu vergleichen, was nun vor uns liegt. …

Dieser Deal ist besser als nichts. Und er wird mit der erwarteten Unterstützung der Labour-Partei rasch durch das Parlament kommen, wenngleich die Schottische Nationalpartei SNP wahrscheinlich symbolisch Widerstand leisten wird – in der Gewissheit, dass ein ‚No Deal‘ vermieden wurde. Was dieser schwache neue Vertrag nicht tun wird, ist, den nationalen Streit darüber beenden, wie Großbritanniens Wohlstand und Sicherheit gewährleistet werden sollen. Das Gefühl der Erleichterung ist sehr real und willkommen, aber nur in dem Sinne, dass man aufhört, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.“

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„In Wahrheit haben wir alle verloren“, meint die italienische Zeitung „Corriere della Sera“ aus Mailand am Donnerstagabend:

„Der Zeitpunkt ist zu schwierig und die Welt zu kompliziert, um sich unter Freunden zu hassen. Das Abkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich ist ein Weihnachtsgeschenk für alle. Es hätte nicht erst in der letzten Woche ankommen müssen, man hätte nicht in Zeiten der Pandemie kämpfen müssen und – wollen wir es sagen? – wir hätten uns nicht trennen müssen: Wir sind alle Europäer, auf dem Kontinent und auf der Insel. Aber das Brexit-Votum 2016 und die Volksabstimmung für Boris Johnson 2019 ließen keine Alternative. Es war unausweichlich, dass das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union austritt, und es war angemessen, ein Abkommen zur Regelung künftiger Beziehungen zu finden. …

In London und Brüssel – seien Sie versichert – werden sie so tun, als hätten sie gewonnen. In Wahrheit haben wir alle verloren, und im letzten Augenblick unentschieden gespielt. Handel, Transport, Sicherheit: Wir teilen jetzt sehr viele Dinge. Die Verbreitung der ‚englischen Variante‘ von Covid, die Lastwagenschlange in Dover, das Chaos der Rückreisen: In wenigen Stunden ertönt die Trompete der Realität in den Ohren der Verhandlungsführer, die es verstanden haben.“

„Es wurde Zeit“, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Brexit habe viel zu lange politische Energie absorbiert:

„Jetzt also doch noch eine schöne Bescherung: Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union haben sich auf einen Handelsvertrag geeinigt, der nach dem Ende der Übergangsphase zum Jahreswechsel sicherstellen soll, dass das künftige Verhältnis, vor allem in der Wirtschaft, auf einer vernünftigen, für beide Seiten akzeptablen Grundlage steht.

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Zölle und andere Handelshemmnisse sowie viel mehr Bürokratie als bisher (mehr als ohnehin unvermeidlich sein wird) wären ein Albtraum gewesen – auch für die Brexiteers. Sie hatten für den EU-Austritt gestimmt, nicht aber für wirtschaftliche Einbußen und herbe Einkommensverluste. Am Ende hat die Vernunft gesiegt. Es wurde Zeit! …

Vielleicht hat das Chaos vor englischen Häfen doch Wirkung entfaltet. In jedem Fall werden sich die Bürger des Königreichs und die der EU-27 jetzt auf Verhältnisse einstellen können, die nicht in der Kälte der Vertragslosigkeit beginnen. Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Der Brexit, an dem vor allem Briten und Nordiren noch zu tragen haben werden, hat viel zu lange politische Energie absorbiert.“

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Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert, Großbritannien zahle „einen saftigen Preis“:

„Großbritannien hat einen saftigen Preis für den Austrittswunsch gezahlt. Das Land ist stehengeblieben in der Zeit, die Politik hat sich radikalisiert, die Abspaltungsphantasien in Schottland wachsen wieder. Bekommen haben die Briten dafür: einen Austritt light. Denn der Handelsvertrag mitsamt der symbolisch bedeutsamen Fischereiquote und den wichtigen Verabredungen zur Zukunft der Finanzwirtschaft und allen anderen Unterabteilungen des politischen und gesellschaftlichen Daseins (sträflicherweise bis auf die Außen- und Sicherheitspolitik) passen längst nicht mehr zum großmäuligen Freiheits- und Souveränitätsversprechen, das Boris Johnson und Nigel Farage einst abgegeben haben. Das ist eine gute Nachricht – für die Briten wie die EU-Europäer. …

In der Dramaturgie von Verhandlungen ist ein Abkommen kurz vor Torschluss ein probates Mittel, um Kritiker von allen Seiten auf Abstand zu halten. So ist es auch diesmal. Das bedeutet aber nicht, dass Großbritannien und die EU nun glücklich bis ans Ende ihrer Tage sein werden. Der Vertrag hat den Widerspruch des britischen Souveränitätswunsches nämlich nicht gelöst: Handelsbeziehungen verlangen nach gemeinsamen Regeln – und schon ist sie dahin, die Idee von der bedingungslosen Freiheit. Man sieht sich spätestens vor Gericht zur Streitschlichtung.

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In den stets komplizierten Beziehungen des Königreichs zu seinen europäischen Nachbarn ging es immer auch um britische Identität, um die nationale Idee. Die haben, wie es nun scheint, weder Johnson noch seine politischen Gegner gefunden. Die furiose Paargeschichte zwischen der Insel und dem Kontinent wird deshalb fortgesetzt.“

RND/dpa/cz


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