Pressestimmen zum Nawalny-Urteil: „Der Gipfel des Zynismus“

Alexej Nawalny bei seiner Gerichtsanhörung. Der russische Oppositionsführer wurde zu dreieinhalb Jahren im Straflager verurteilt.

Alexej Nawalny bei seiner Gerichtsanhörung. Der russische Oppositionsführer wurde zu dreieinhalb Jahren im Straflager verurteilt.

Berlin. Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny ist am Dienstag von einem Gericht zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Weil der 44-Jährige mehrfach gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren von 2014 verstoßen habe, muss er nun in ein Straflager.

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Das Medienecho ist groß: Weltweit rufen Stimmen nach stärkeren Sanktionen gegen den Kreml. Die Presse sieht Nawalny als Märtyrer, das Urteil hingegen als Zeichen der Schwäche des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Das US-amerikanische „Wall Street Journal“ schreibt: „Eine Erkenntnis ist, dass Herr Putin und seine Gefolgschaft sich bedroht fühlen müssen. Die Proteste zur Unterstützung von Herrn Nawalny haben in großen russischen Städten zugenommen.“ Putin werde sich nur beeindrucken lassen, wenn die Biden-Regierung eine geschlossene westliche Antwort zusammentrommeln könne, so die US-amerikanische Zeitung. Es müsse härtere Sanktionen geben, auch gegen Spießgesellen des Kremls. „Die Nato sollte auch auf eine externe Provokation eingestellt sein, falls Putin die Aufmerksamkeit in Russland von seinen innenpolitischen Problemen ablenken will“, schreibt das „Wall Street Journal“ weiter.

„Die Presse“ aus Wien bezeichnet das Urteil als Zeichen von Schwäche: „Einen Vergifteten zu verurteilen, weil er sich nicht an die Auflagen der Justiz gehalten hat, ist der Gipfel des Zynismus. Es verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Russen. Und es ist überdies ein Zeichen von Schwäche des vermeintlich so starken Mannes in Moskau, der sich in der Corona-Krise in seinen Palästen strikt von der Außenwelt abschirmt.“ Die österreichische Zeitung weiter: „Es liegt an EU-Außenminister Josep Borrell, bei seiner Moskau-Visite am Donnerstag Klartext zu reden. Der Vorschlag eines Nawalny-Vertrauten, die Sanktionen auf den inneren Machtzirkel um Putin auszuweiten, träfe das System im Nerv.“

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Verhalten äußert sich die russische Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta“: „Die Bewährungsstrafe von Alexej Nawalny wurde in eine echte Haft umgewandelt. Es wird damit die erste richtige Gefängnisstrafe für den Oppositionsführer sein, der es bisher wie durch ein Wunder geschafft hat, sich eine richtige Haftstrafe zu ersparen. Allem Anschein nach hat sich Nawalnys Glück nur deshalb geändert, weil er sich Präsident Wladimir Putin direkt stellte.“ Es bestehe kein Zweifel daran, dass es in früheren Zeiten stets die höchste Instanz war, die dem Oppositionellen eine Immunität gewährleistet habe, so die russische Zeitung weiter.

Die spanische Zeitung „La Vanguardia“ kommentierte, dass Wladimir Putins „Spielregeln“ nicht mit denen westlicher Demokratien zu vergleichen seien. „Während seiner langen Amtszeit hat er nie gezögert, die Opposition zu unterdrücken, wenn sie versuchte, seine Macht zu gefährden.“ Die Proteste der USA und der EU hätten zwar nicht lange auf sich warten lassen, seien aber zu erwarten gewesen und von Putin mit „der gleichen Kälte wie immer“ quittiert worden. „Im Augenblick der Wahrheit ist Russlands wirtschaftliche und politische Macht noch immer groß genug“, so die spanische Zeitung. Im Hinblick auf den russischen Impfstoff Sputnik V werde die Debatte über die Menschenrechte oder die Situation der Opposition in Russland bald in den Hintergrund treten, so „La Vanguardia“.

Der „Zürcher Tages-Anzeiger“ schreibt, das Urteil zeige die Not und Einfallslosigkeit der Moskauer Führung. „Wer Demonstranten pauschal ‚Provokateure‘ und ‚Rowdys‘ nennt, für den ist ein Dialog mit dem kritischen Teil des Volkes offenbar keine Option. Acht Monate vor der Parlamentswahl sieht der Kreml keinen Anlass, die Zügel zu lockern. Denn Freiheit und Freiraum für Nawalny und sein Team würden für den auf Kontrolle setzenden Kreml einen Wahlkampf bedeuten, der deutlich schwerer planbar wäre. Damit würde das Risiko erhöht, dass die unbeliebte Regierungspartei weiter an Ansehen verliert.“

Kritische Stimmen auch aus Deutschland: Die „Ludwigsburger Kreiszeitung“ kritisiert das Verhalten der SPD und Altkanzler Gerhard Schröder: „Schröder ist inzwischen eine Schande für die SPD – und auch für Deutschland. In Sachen Russland steht er freilich nicht allein. Da ist Manuela Schwesig, eine angebliche Hoffnungsträgerin, die sich um Nord Stream 2 weit mehr sorgt als um Leben und Freiheit der Oppositionellen. Da ist Matthias Platzeck, Ex-Parteichef, der zur Gewalt gegen Kremlkritiker schweigt und lieber davor warnt, Russland ‚immer weiter in die Ecke zu treiben‘. Und da ist die aktuelle Partei- und Fraktionsführung, von der auch angesichts des gestrigen Willkürprozesses gegen Nawalny kein kritischer Ton zu hören war, geschweige denn die Forderung nach Konsequenzen für die guten Gasgeschäfte.“ Man brauche die Partnerschaft mit Russland für den Frieden auf dem Kontinent, hieße es aus den Reihen der SPD. Für die „Ludwigsburger Kreiszeitung“ sei dies aber kein Grund, „seine Grundwerte zu verschweigen“.

Gemäßigter zeigt sich der „Weser-Kurier“: „Der russische Staat zeigt unerbittliche Härte gegen die Opposition. Dazu passt auch das Urteil gegen Nawalny. Durch die drastische Haftstrafe könnte dem 44-Jährigen die Rolle des Märtyrers zufallen. Natürlich, Putin kann nach wie vor auf eine relativ breite Unterstützung in Russland bauen. Aber klar ist: Das Problem Nawalny wird er so schnell nicht mehr los.“

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Auch der Kommentar in der „Leipziger Volkszeitung“ sieht Nawalny in der Märtyrerrolle: „Nawalny inszenierte sich lange als politische Alternative zu Präsident Wladimir Putin und nahm dafür viel in Kauf – zuletzt seine hoch riskante Rückkehr aus Deutschland nach Moskau. Er musste mit dem, was jetzt geschah, rechnen. Und mit Schlimmerem.“ Es sei klar gewesen, dass Putin den Märtyrer, der selbst „auch nicht ganz frei von gewissen narzisstischen Symptomen“ sei, nicht einfach so als Konkurrenten im Kampf um die Macht dulden würde. Nawalny habe Mut bewiesen und hoch gepokert, so die „Leipziger Volkszeitung“ und stellt die Frage, ob der Oppositionsführer nun noch ein Ass im Ärmel habe.

Als absurd bezeichnet die „Badische Zeitung“ aus Freiburg das Urteil gegen Nawalny. „Dass das Wesen des politischen Systems in Russland Gesetzlosigkeit und Willkür sind, wie Nawalny in seinem Schlusswort sagte, lässt sich nach diesem Urteil schwerlich bestreiten“, heißt es in einem Kommentar. „Das Opfer eines Nervengiftanschlags muss ins Straflager, weil es während der Behandlung in Deutschland gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben soll; der Anschlag selbst ist der Justiz keine Untersuchung wert – absurder geht es kaum. Gut möglich, dass Nawalny nun für viele Jahre im Gefängnis verschwindet (andere Verfahren laufen), dass der unbeugsame, teils kokette Auftritt im Gerichtssaal für lange Zeit sein letztes Hurra war. Putins Problem aber ist nicht Nawalny (…). Putins Problem ist das System Putin selbst. Denn Nawalny hat Recht: Rings um den alternden Kremlchef häufen Günstlinge sagenhafte Reichtümer an, während das Land allmählich ausblutet.

Die „Hessische Niedersächsische Allgemeine“ aus Kassel schreibt: „Was mutmaßlich der russische Geheimdienst mit Gift nicht vermocht hat, gelingt nun einem Gericht unter staatlicher Aufsicht – den Oppositionsführer just in dem Moment aus dem Verkehr zu ziehen, als er zur größten Bedrohung für den Kreml geworden ist. Das schändliche Urteil wirft nun brisante Fragen auf: Wie wird die russische Protestbewegung reagieren? Wächst sie weiter an – eskaliert ihre gewaltsame Unterdrückung durch den Machtapparat? Und wie werden Deutschland und die EU künftig mit Russland umgehen? Ein Partner, das steht fest, kann das System Putin nicht mehr sein, will man die eigenen Grundwerte nicht selbst schändlich verraten.“

RND/dpa/ag

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