Proteste in Russland: Putins Kater nach dem Rausch
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Erstmals bekommt Putin persönlich den Unmut seines Volkes zu spüren: Nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Anhebung des Renteneintrittsalters rutschten seine Zustimmungswerte in den Keller.
© Quelle: Pavel Golovkin/AP
Berlin. Nicht nur die deutsche Fußball-Nationalmannschaft weiß ein Lied davon zu singen, wie tief man nach einem WM-Triumph stürzen kann. Italienern und Spaniern erging es zuvor nicht anders. Russland und sein Präsident Wladimir Putin hätten also gewarnt sein können.
Die Sbornaja, die Auswahl des WM-Gastgebers von 2018, hat das Turnier sportlich zwar nicht gewonnen. Doch als Putin am Tag nach dem Finale von Moskau beim russisch-amerikanischen Gipfel in Helsinki seinem US-Kollegen Donald Trump einen WM-Ball schenkte, da überschlugen sich die Kommentatoren in ihren Siegeshymnen auf den Kremlchef. Nicht, weil sie ihn sonderlich schätzten, sondern weil sie ihn eben als Sieger sahen.
Von einem “ungetrübten Triumph Putins“ schrieb etwa die “Washington Post“. Das Urteil bezog sich auf den Gipfel mit Trump, bei dem der russische Präsident “jenen Propagandasieg erzielte, von dem wir alle annahmen, dass er kommen würde“. Doch diese Bewertung war von dem Imagegewinn Russlands bei der vorangegangenen Fußballshow kaum zu trennen.
Eine WM wie ein Rausch
Die Organisation hatte nahezu perfekt funktioniert. Faszinierende Bilder aus einem faszinierenden Land voller offenherziger Menschen hatten sich um den Globus verbreitet. Und sogar die fußballerisch eher minderbemittelte “Sbornaja“ hatte begeisternde Kämpfe geliefert und nur knapp das Halbfinale verpasst.
Anders formuliert: Russland lebte während der WM wie im Rausch. Und am Tag danach stand die aufgeputschte Nation, die mit dem Zerfall des Sowjetimperiums einst “die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Putin) erlebt hatte, in Person ihres Präsidenten endlich wieder als Großmacht auf der Weltbühne und blickte dem US-Präsidenten mindestens auf Augenhöhe ins Gesicht. Vielleicht zeigte die russische Blickachse sogar schon ein wenig nach unten.
Dann aber setzte unerwartet schmerzhaft der Kater ein. Ende Juli, also nur zwei Wochen nach dem Gipfel von Helsinki, meldeten sogar kremltreue Demoskopen kritische Werte für die Regierung von Ministerpräsident Dmitri Medwedew sowie, und das ist neu, auch für Putin persönlich.
Absturz durch Steuererhöhung und Rentenreform
Nur noch ein Drittel der Menschen in Russland gibt noch an, dem Präsidenten uneingeschränkt zu vertrauen. Auf diesem Index hat Putin sonst meist locker die 50-Prozent-Hürde genommen. Und auch in der Sonntagsfrage nach einer (fiktiven) Wahlentscheidung kommt der Kremlchef, den die Bürger erst im März mit mehr als 70 Prozent Zustimmung im Amt bestätigt haben, nur noch auf 48 Prozent.
Bei der Suche nach Gründen für den Absturz wird man schnell fündig. Die Regierung hatte, pünktlich zum WM-Start und wohl in der Hoffnung, der Sport werde die Politik aus den Schlagzeilen heraushalten, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent beschlossen. Zugleich soll das Renteneintrittsalter angehoben werden, zwar nur schrittweise bis 2034, aber dafür umso deutlicher.
Frauen, die bislang mit 55 Jahren aus dem Beruf ausscheiden können, sollen künftig bis zum 63. Lebensjahr arbeiten. Männer, deren Lebenserwartung derzeit bei nur 67,5 Jahren liegt, sollen bis 65 arbeiten (bislang 60). All das sei nötig, erklärte Medwedew, um den Staatshaushalt zu stabilisieren.
“Rentenverbrechen an der Nation“
Die Botschaft aber, die bei den Bürgern trotz der Fußballparty ankam, lautete: “Dem Land und seiner Wirtschaft geht es schlecht, weil eine korrupte Machtelite schlecht regiert, und wir sollen es ausbaden.“ Vereinzelt wurden sogar Stimmen laut, die auf die horrenden WM-Kosten von mehr als 10 Milliarden Euro verwiesen, von denen fast 1,5 Milliarden in dunklen Kanälen versickert sein sollen.
Das zumindest behaupten Antikorruptionsaktivisten, allen voran der schärfste Kremlkritiker, Alexei Nawalny, der erst 2017 in einem Youtube-Video das angeblich zusammengegaunerte Immobilienimperium von Premier Medwedew vorgeführt hatte.
All das bildet den fruchtbaren Boden, auf dem nach dem WM-Vergnügen nun die Proteststimmung wächst. In Moskau und anderen Städten gingen Zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen das “Rentenverbrechen an der Nation“ zu demonstrieren. Wie es nach der Sommerpause weitergeht, ist offen. Unklar ist vor allem, ob der Unmut Putin auf Dauer in Bedrängnis bringen kann.
Putin hatte wiederholt unpopuläre Entscheidungen zurückgenommen
Es gehörte stets zur Strategie des Kremlchefs, der seit bald 20 Jahren der mächtigste Mann im Land ist, sich in kritischen Zeiten als “guter Zar“ zu präsentieren, der nur an sein Volk denkt und nicht an sich selbst. Putin bemüht dabei gern einen Topos, der aus der russischen Geschichte bekannt ist: “Hätte der Zar von den Ungerechtigkeiten seiner Beamten gewusst, wäre er ihnen viel früher in den Arm gefallen.“
Wiederholt hat Putin unpopuläre Entscheidungen seiner Regierung zurückgenommen, zelebrierte dies mitunter sogar in seiner jährlichen TV-Bürgersprechstunde “Der direkte Draht“. In der Sendung können Menschen anrufen und dem “Zaren“ ihr Schicksal klagen.
“Putin hat nicht die Kraft gefunden, Verantwortung zu übernehmen“
In diesem Jahr jedoch könnte Putin genau dabei ein schwerwiegender Fehler unterlaufen sein. Im Juni, kurz vor WM-Beginn also, gab er nach dem bekannten Muster zu Protokoll, nichts Genaues über die Rentenpläne der Regierung zu wissen.
Der kremlkritische Journalist Oleg Kaschin kommentierte, Putins Unwille, mit der Reform in Verbindung gebracht zu werden, könne ihm diesmal auf die Füße fallen: “Die Hauptnachricht ist nicht, dass das Rentenalter erhöht wird, sondern dass Putin nicht die Kraft gefunden hat, die Verantwortung zu übernehmen.“
Die jüngsten Umfragewerte weisen genau in diese Richtung. Nicht auszuschließen ist, dass Historiker eines Tages beschreiben werden, wie Putins Abstieg nach der WM ausgerechnet auf dem Siegesgipfel von Helsinki begann.
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Ulkrich Krökel
© Quelle: Jan Zappner
Zur Person: Ulrich Krökel ist Slawist, langjähriger Osteuropa-Korrespondent, Russlandkenner und -reisender. Den Aufstieg Wladimir Putins begleitet er publizistisch seit zwei Jahrzehnten.
Von Ulrich Krökel