Georgien-Expertin: „Die jungen Menschen wollen nicht in einem Polizeistaat leben“
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Junge Demonstranten und Demonstrantinnen zeigen am Freitag vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis, wo sie ihr Land künftig sehen wollen.
© Quelle: Shakh Aivazov/AP/dpa
Berlin. Das georgische Parlament hat das umstrittene „Agentengesetz“ zwar am Freitag endgültig zurückgezogen, aber die proeuropäischen Proteste in der Hauptstadt Tiflis gehen trotzdem weiter. Was sich zu Wochenbeginn auf der Straße mit Zehntausenden Demonstrierenden entlud, reiht sich nach Ansicht politischer Beobachterinnen und Beobachter in eine seit fünf Jahren bestehende Protestwelle ein, mit der die Bevölkerung immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Politik der Regierungspartei Georgischer Traum zum Ausdruck bringt.
Beril Ocaklı, Südkaukasusexpertin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, nennt als Beispiel die Proteste, die es schon 2019 gab, als sich der russische Dumaabgeordnete Sergei Gawrilow während eines Besuchs im georgischen Parlament auf den Platz des Parlamentspräsidenten setzte und eine Rede in russischer Sprache hielt. Die Abgeordneten der Opposition verließen wütend den Saal und trafen draußen auf eine bereits protestierende Menge.
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© Quelle: Reuters
Diplomatische Beziehungen zu Russland abgebrochen
Seit dem russisch-georgischen Krieg von 2008, bei dem es um die abgespaltenen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien ging, hat Georgien die diplomatischen Beziehungen mit Russland abgebrochen. Zwar gibt es inzwischen wieder einen visafreien Reiseverkehr, der gilt jedoch nur einseitig für russische Reisende.
2020 gab es große Proteste gegen ein von einem türkischen Investor geplantes Wasserkraftwerk, wobei es unter anderem um Umweltbelange ging. Ein Jahr später kam es im Streit um eine Demonstration für die Rechte von homo-, bi- und transsexuellen Menschen zu Ausschreitungen. Dabei wurden auch etwa 20 Journalistinnen und Journalisten von schwulen- und lesbenfeindlichen Gewalttätern angegriffen und verletzt.
„Die Regierung erzählt etwas von Transparenz, aber die Bürger werden zynisch behandelt“, erläutert Ocaklı. Bei großen Infrastrukturprojekten gebe es praktische keine Beteiligung der Bevölkerung. Die Regierung verfolge nach offizieller Darstellung einen proeuropäischen Kurs, betreibe aber stattdessen eine schleichende Annäherung an Russland und Autoritarismus.
In diesem Kontext sieht die Opposition auch das nun abgelehnte „Agentengesetz“, das nach russischem Strickmuster entworfen worden war und Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Medien, die Geld aus dem Ausland beziehen, zwingen sollte, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Ein ähnliches Gesetz hatte Moskau 2012 verabschiedet. In der Folge wurden Zug um Zug alle missliebigen NGOs verboten. Vertreter der georgischen Regierungspartei hatten behauptet, mit dem Gesetz solle mehr „Transparenz“ hergestellt werden.
Der Präsident des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, kritisierte die Rücknahme des Gesetzes. „Mit dem Verzicht auf seine Erörterung im Parlament hat Georgien seine Chance auf Souveränität verpasst“, schrieb Wolodin in seinem Telegram-Kanal und beschuldigte die USA, hinter den Protesten zu stecken. Georgische Kritiker des Gesetzentwurfs werfen der Regierung vor, damit den Weg Richtung Autoritarismus zu ebnen, und sehen damit auch die EU-Perspektive der einstigen Sowjetrepublik in Gefahr.
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Enttäuschung über Entscheidung in Brüssel zum EU-Kandidatenstatus
Als die EU im Juni 2022 der Ukraine und Moldau aber nicht Georgien den Status eines Beitrittskandidaten gab, sei die Enttäuschung in der Bevölkerung riesig gewesen, berichtet Expertin Ocaklı, die sich regelmäßig auch vor Ort im Land ein Bild von der Situation macht. „Das ist ein sehr emotionales Thema“, sagt Ocaklı und fügt hinzu: „Vielen Georgierinnen und Georgiern hat es das Herz gebrochen.“ Brüssel zeichnete für Georgien zwar weiterhin eine europäische Perspektive, knüpfte diese aber an zwölf Empfehlungen, die umgesetzt werden müssen.
Dabei geht es um Fragen wie Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit, aber auch um den unverhältnismäßig großen Einfluss von privaten Interessen in der georgischen Politik. Ohne ihn namentlich zu nennen, war das ein Fingerzeig auf den Oligarchen Bidzina Iwanischwili (67), der einst in Russland ein Vermögen machte und kurzzeitig auch Premierminister von Georgien war. Der Milliardär hat momentan zwar kein politisches Amt inne, zieht aber im Hintergrund die Fäden und wird auch für den russlandfreundlichen Kurs seiner Partei verantwortlich gemacht.
Beril Ocaklı glaubt, dass die Opposition aus der Brüsseler Entscheidung auch Kraft ziehen kann, um den Staat zu Verhandlungen über die Zukunft des Landes zu zwingen. „Die jungen Menschen, die jetzt demonstrieren, die wollen nicht in einem Polizeistaat unter ständiger Beobachtung leben, sondern in einem freien Land mit westlicher Orientierung.“ Schon in der Vergangenheit haben Umfragen immer wieder gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger Georgiens mehrheitlich für einen Beitritt zur EU (80 Prozent) und zur Nato (70 Prozent) sind.