Demonstrationen in Tiflis

Georgien-Expertin: „Die jungen Menschen wollen nicht in einem Polizeistaat leben“

Junge Demonstranten und Demonstrantinnen zeigen am Freitag vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis, wo sie ihr Land künftig sehen wollen.

Junge Demonstranten und Demonstrantinnen zeigen am Freitag vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis, wo sie ihr Land künftig sehen wollen.

Berlin. Das georgische Parlament hat das umstrittene „Agenten­gesetz“ zwar am Freitag endgültig zurück­gezogen, aber die proeuropäischen Proteste in der Hauptstadt Tiflis gehen trotzdem weiter. Was sich zu Wochen­beginn auf der Straße mit Zehn­tausenden Demonstrierenden entlud, reiht sich nach Ansicht politischer Beobachterinnen und Beobachter in eine seit fünf Jahren bestehende Protestwelle ein, mit der die Bevölkerung immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Politik der Regierungs­partei Georgischer Traum zum Ausdruck bringt.

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Beril Ocaklı, Südkaukasus­expertin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin, nennt als Beispiel die Proteste, die es schon 2019 gab, als sich der russische Duma­abgeordnete Sergei Gawrilow während eines Besuchs im georgischen Parlament auf den Platz des Parlaments­präsidenten setzte und eine Rede in russischer Sprache hielt. Die Abgeordneten der Opposition verließen wütend den Saal und trafen draußen auf eine bereits protestierende Menge.

IAEA-Chef Grossi: „Eines Tages wird uns das Glück verlassen“
ARCHIV - 01.05.2022, Ukraine, Enerhodar: Auf diesem während einer vom russischen Verteidigungsministerium organisierten Reise aufgenommenen Foto bewacht ein russischer Soldat einen Bereich des Kernkraftwerks Saporischschja in einem Gebiet unter russischer Militärkontrolle im Südosten der Ukraine. (zu dpa "Betreiber: Ukrainisches AKW Saporischschja von Stromnetz getrennt") Foto: -/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Vielerorts fiel nach landesweiten russischen Raketenangriffen der Strom aus. Europas größtes AKW wurde über Dieselgeneratoren notversorgt.

Diplomatische Beziehungen zu Russland abgebrochen

Seit dem russisch-georgischen Krieg von 2008, bei dem es um die abgespaltenen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien ging, hat Georgien die diplomatischen Beziehungen mit Russland abgebrochen. Zwar gibt es inzwischen wieder einen visafreien Reiseverkehr, der gilt jedoch nur einseitig für russische Reisende.

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2020 gab es große Proteste gegen ein von einem türkischen Investor geplantes Wasserkraftwerk, wobei es unter anderem um Umwelt­belange ging. Ein Jahr später kam es im Streit um eine Demonstration für die Rechte von homo-, bi- und transsexuellen Menschen zu Ausschreitungen. Dabei wurden auch etwa 20 Journalistinnen und Journalisten von schwulen- und lesben­feindlichen Gewalttätern angegriffen und verletzt.

„Die Regierung erzählt etwas von Transparenz, aber die Bürger werden zynisch behandelt“, erläutert Ocaklı. Bei großen Infrastruktur­projekten gebe es praktische keine Beteiligung der Bevölkerung. Die Regierung verfolge nach offizieller Darstellung einen proeuropäischen Kurs, betreibe aber stattdessen eine schleichende Annäherung an Russland und Autoritarismus.

In diesem Kontext sieht die Opposition auch das nun abgelehnte „Agentengesetz“, das nach russischem Strickmuster entworfen worden war und Nichtregierungs­organisationen (NGO) und Medien, die Geld aus dem Ausland beziehen, zwingen sollte, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Ein ähnliches Gesetz hatte Moskau 2012 verabschiedet. In der Folge wurden Zug um Zug alle missliebigen NGOs verboten. Vertreter der georgischen Regierungs­partei hatten behauptet, mit dem Gesetz solle mehr „Transparenz“ hergestellt werden.

Der Präsident des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, kritisierte die Rücknahme des Gesetzes. „Mit dem Verzicht auf seine Erörterung im Parlament hat Georgien seine Chance auf Souveränität verpasst“, schrieb Wolodin in seinem Telegram-Kanal und beschuldigte die USA, hinter den Protesten zu stecken. Georgische Kritiker des Gesetzentwurfs werfen der Regierung vor, damit den Weg Richtung Autoritarismus zu ebnen, und sehen damit auch die EU-Perspektive der einstigen Sowjetrepublik in Gefahr.

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Enttäuschung über Entscheidung in Brüssel zum EU-Kandidatenstatus

Als die EU im Juni 2022 der Ukraine und Moldau aber nicht Georgien den Status eines Beitrittskandidaten gab, sei die Enttäuschung in der Bevölkerung riesig gewesen, berichtet Expertin Ocaklı, die sich regelmäßig auch vor Ort im Land ein Bild von der Situation macht. „Das ist ein sehr emotionales Thema“, sagt Ocaklı und fügt hinzu: „Vielen Georgierinnen und Georgiern hat es das Herz gebrochen.“ Brüssel zeichnete für Georgien zwar weiterhin eine europäische Perspektive, knüpfte diese aber an zwölf Empfehlungen, die umgesetzt werden müssen.

Dabei geht es um Fragen wie Rechts­staatlichkeit und Medien­freiheit, aber auch um den unverhältnismäßig großen Einfluss von privaten Interessen in der georgischen Politik. Ohne ihn namentlich zu nennen, war das ein Fingerzeig auf den Oligarchen Bidzina Iwanischwili (67), der einst in Russland ein Vermögen machte und kurzzeitig auch Premier­minister von Georgien war. Der Milliardär hat momentan zwar kein politisches Amt inne, zieht aber im Hintergrund die Fäden und wird auch für den russland­freundlichen Kurs seiner Partei verantwortlich gemacht.

Beril Ocaklı glaubt, dass die Opposition aus der Brüsseler Entscheidung auch Kraft ziehen kann, um den Staat zu Verhandlungen über die Zukunft des Landes zu zwingen. „Die jungen Menschen, die jetzt demonstrieren, die wollen nicht in einem Polizeistaat unter ständiger Beobachtung leben, sondern in einem freien Land mit westlicher Orientierung.“ Schon in der Vergangenheit haben Umfragen immer wieder gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger Georgiens mehrheitlich für einen Beitritt zur EU (80 Prozent) und zur Nato (70 Prozent) sind.

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