RND-Experte über das Coronavirus: “Meine große Hoffnung ist das Frühjahr”
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Prof. Matthias Stoll, Medizinische Hochschule Hannover, spricht über das Coronavirus.
© Quelle: Rainer Dröse/dpa
Hannover. Um dieses Virus zu beurteilen, müssen wir zunächst auf die Zahlen schauen. Und da sehen wir, den fast stündlichen Meldungen über neue Infektionen aus Deutschland zum Trotz, eine Kurve der Neuinfektionen, die weltweit gesehen deutlich flacher geworden ist. Wir sind noch immer bei unter 100.000 Infektionen weltweit und bei unter 3000 Toten. Dieses Virus breitet sich offenbar nicht so schnell aus, wie es anfangs zu befürchten war. Es lässt uns etwas Zeit.
Wir sind in Deutschland im Moment in einer Phase, in der wir wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Es gibt unter meinen Kollegen einige, die jeden neuerlichen Anstieg der Infektionszahlen hierzulande mit düsteren Prognosen begleiten. Ja, es stimmt: Dieses Virus ist, gemessen an der Sterblichkeitsrate, tödlicher als die Grippe. Aber man kann auch an der vermeintlich harmloseren, aber sehr viel häufigeren Virusgrippe sehr jung und unvermittelt sterben. Wir hatten vor Kurzem eine Patientin auf der Intensivstation, die mit Mitte 30, ohne Vorerkrankungen, an der Grippe gestorben ist. Obwohl wir die Virusgrippe im Gegensatz zu Covid-19 behandeln können, waren wir machtlos. Wir sehen also auch bei der Grippe immer wieder solche Verläufe, die wir nicht erklären können – und das bei weit höheren Zahlen. In der sehr schweren Grippesaison 2017/2018 etwa hatten wir in Deutschland 10 Millionen Infizierte und gut 25.000 Tote. Das waren also allein hier in Deutschland achtmal mehr Tote als Covid-19 bislang weltweit gefordert hat.
“Wir spüren die steigende Unruhe der Bürger”
In der Medizinischen Hochschule haben wir 20 Betten auf der Isolierstation, die wir für Covid-19-Kranke freihalten können. Zum Glück haben wir bislang noch keines davon belegt. Aber wir hatten mehrfach echte Verdachtsfälle und spüren natürlich zunehmend auch die steigende Unruhe der besorgten Bürger.
Seit den ersten Berichten über die Infektionen in Italien – und erst recht seit Fällen in Nordrhein-Westfalen und Hamburg – kommen immer mehr Menschen direkt zu uns die Klinik, die fürchten, sie hätten sich infiziert. Wir haben inzwischen Hinweisschilder am Eingang, auf denen wir diejenigen bitten, an der Tür zu warten – sie werden dann direkt in einen gesonderten Wartebereich gebracht. Das ist durchaus ein Problem: Wir müssen und wollen natürlich jeden Einzelfall ernst nehmen. Aber bislang haben wir auch alle wieder spätestens am Nachfolgetag nach Hause geschickt. In Niedersachsen haben wir in einem Krisenstab die Regelung getroffen, dass die Diagnostik und Versorgung von Nicht-Kranken im ambulanten Bereich bleibt. Das ist für manchen niedergelassenen Arzt ärgerlich, weil er sich für diese Fälle vielleicht nicht ausreichend vorbereitet sieht. Aber wir müssen die Krankenhäuser funktionsfähig halten. Und es würde Krankenhäuser überfordern, wenn man sagt, wir schicken alle Verdachtsfälle in eine Krankenhausambulanz. Letztlich bin ich der festen Überzeugung, dass wir gut auf weitere Ausbrüche vorbereitet sind. Ich muss auch eine Lanze für die Gesundheitsämter brechen, die fachlich sehr gut aufgestellt sind. Im Moment aber werden sie vom Klein-Klein einer Masse von Anfragen belastet. Auch das ist ein Problem.
“Beunruhigende neue Hinweise”
Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn als Infektiologe immer wieder mit zum Teil sehr gefährlichen neuen Viren zu tun gehabt. Dieses neue SARS-Virus, SARS-CoV-2, hat durchaus trickreiche Seiten. Das alte SARS-Virus hat sich 2003 erst verbreiten können, wenn dessen Träger bereits an einer schweren Lungenentzündung litten. Als wir das entdeckt hatten, konnte man es mit strengen Hygienemaßnahmen sehr gut bekämpfen und binnen weniger Wochen zum Verschwinden bringen. Das neue SARS-CoV-2-Virus überträgt sich auch dann, wenn es nur im Rachenbereich siedelt. Wir wissen schon viel über Covid, aber werden immer wieder auch unangenehm überrascht: Beunruhigend sind neue Hinweise, dass die Inkubationszeit möglicherweise bis zu vier Wochen betragen könnte – bislang gingen wir von maximal zwei Wochen aus. Außerdem gibt es erste Meldungen, wonach ein Patient in Japan, der schon geheilt war, erneut erkrankt ist. Das würde also heißen, dass Zweitinfektionen binnen kurzer Frist möglich sind. Insgesamt verstehen wir noch nicht alles über dieses Virus. Warum die Sterblichkeit zum Beispiel in der Provinz Huwei höher ist als anderswo, obwohl das Gesundheitssystem in China doch eigentlich gut entwickelt ist, auch das ist bislang ein Rätsel.
Trotz dieser beunruhigenden, offenen Fragen ist es insgesamt doch auch ein eher freundliches Virus. Weil es uns nicht so rasend überfährt. Weil die große Mehrzahl der Fälle nicht ernsthaft erkrankt und die Sterblichkeit außerhalb von China mit derzeit ein Prozent nicht sehr hoch ist. Es lässt uns Möglichkeiten.
“Eindämmung? Es geht eher darum, nicht überflutet zu werden”
Ob ich die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung ausreichend finde? Das ist eine Frage, die der Arzt nicht beantworten kann, weil diese sich am realistischerweise erreichbaren Ziel orientieren muss. Das Idealziel der Eindämmung setzt voraus, dass es weiterhin große trockene, nicht betroffene Bereiche gibt. Im Moment aber geht es wohl eher darum, nicht überflutet zu werden – um im Bild zu bleiben. Die Frage, ob man Konzerte oder Fußballspiele absagt, ist eine politische, keine medizinische. Es gibt für alle solche Fälle Modellsimulationen: Mit jeder Einrichtung, die man schließt, oder jeder Veranstaltung, die man absagt, flacht die Kurve der Neuinfektionen etwas ab – wird aber oft auch etwas länger. Insgesamt macht der Bundesgesundheitsminister hier für mich einen sehr entschlossenen Eindruck – und ich finde die Maßnahmen bislang jedenfalls plausibel und stimmig.
Wenn ich die Politik für etwas kritisieren wollte, dann für diese Sichtweise, es müsse und könne verhindert werden, dass ein Virus überhaupt in die Welt kommt. Es wird heute gern vergessen, dass Infektionen zu einem gewissen Lebensrisiko gehören. Es ist etwas völlig Normales, dass sie von Zeit zu Zeit auftreten. Unser höherer Lebensstandard ist insgesamt schon ein guter Schutz gegen Infektionskrankheiten: Wir haben keine Unterernährten und können es uns leisten, Hygiene zu betreiben. Aber wir haben auch manches dafür getan, dass neue Viren gute Verbreitungschancen bekommen. Die Globalisierung, das häufige Reisen und auch die Urbanisierung sind Einladungen an neue Infektionen: Nirgendwo, das haben wir bereits gesehen, breitet sich das neue SARS-Virus so gut aus, wie wenn viele Menschen auf engem Raum länger beisammen sind. Auf dem Kreuzfahrtschiff in Yokohama, der „Diamond Princess“, gibt es inzwischen mehr als 700 Infektionen. Die Qurarantäne dort war wie eine Einladung für das Virus, die es gern angenommen hat.
“Meine große Hoffnung ist das Frühjahr”
Wir werden auch in Deutschland eine deutlich steigende Zahl an Infektionen sehen, das ist inzwischen klar. Meine große und begründete Hoffnung ist jedoch das Frühjahr. Die intensivere UV-Strahlung, höhere Temperaturen und dass wir mehr frische Luft in die Räume lassen, erschwert die sogenannte Tröpfcheninfektion – und beendet Jahr für Jahr die Grippesaison. Das neue SARS-Virus hat sich bislang fast nur auf der Nordhalbkugel ausgebreitet. Das stimmt mich zuversichtlich, dass es sich bei Covid-19 um ein sogenanntes Erkältungsgeschehen handelt, das sich mit dem Frühling hoffentlich rasch in Luft auflösen wird.