Mitbegründerin von Memorial im Interview

Russische Menschenrechtlerin Scherbakowa: Die Welt des Pazifismus ist zusammengebrochen

Irina Scherbakowa sitzt bei einer Pressekonferenz in der Friedrich Schiller Universität.

Irina Scherbakowa bei einem Forum in der Friedrich Schiller Universität Jena.

Berlin. Trotz internationaler Proteste verfügte ein Gericht in Moskau Ende Dezember 2021 die zwangsweise Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial. Die Vereinigung war Ende der 1980er-Jahre von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow mitgegründet worden und hatte sich besonders der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen gewidmet. Seit 2016 galt die Nichtregierungsorganisation in Russland als „ausländischer Agent“ und wurde strafrechtlich verfolgt.

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Zu den Mitbegründerinnen gehört auch die Germanistin und Menschenrechtlerin Irina Scherbakowa (73), die am Donnerstag, 23. Februar um 18 Uhr mit anderen Prominenten bei der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin über den russischen Überfall auf die Ukraine diskutiert. Die Veranstaltung unter dem Motto Wir müssen reden! Das ist (nicht) unser Krieg wird im Livestream übertragen. Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprach vorab mit Irina Scherbakowa.

Frau Scherbakowa, wie stark schätzen Sie die Opposition in Russland ein?

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Eine politische Opposition im formellen Sinne des Wortes gibt es nicht mehr. Die oppositionellen Kräfte, die noch in dem System wirken, wie zum Bespiel die Mitglieder der Partei Jabloko, können gar nichts bewirken. Da gibt es absolut keine Hoffnung mehr. Das heißt nicht, dass alle Menschen in Russland für den Krieg sind, das zeigen auch Umfragen. Aber die Möglichkeiten des Protestes sind sehr begrenzt, weil der Staat mit enormer Gewalt reagiert. Das System antwortet nicht nur mit irgendwelchen Strafen, sondern mit Freiheitsentzug.

Eine politische Opposition im formellen Sinne des Wortes gibt es nicht mehr.

Mit jedem Tage werden neue Einschränkungen eingeführt. Jetzt plant die Regierung zum Beispiel einen Eingriff bei Youtube, das bislang noch eine der wenigen Möglichkeiten darstellt, auf freie Medien zuzugreifen. Hunderte unabhängige Medien sind nach dem Beginn des Krieges bereits verboten worden. Einige Aktivisten, zum Teil auch von Memorial, versuchen, wenigstens die historische Aufarbeitung fortzusetzen. Aber die Gleichschaltung der Öffentlichkeit schreitet massiv voran, auch an den Schulen bei den Kindern.

Wie sehen Sie die Situation geflüchteter russischer Oppositioneller im Ausland?

Man muss unterscheiden: Es gibt die Menschen, die Russland lange vor dem Krieg verlassen haben, zum Beispiel schon in den 1990er Jahren. Sie sind zumeist überhaupt keine Kreml-Kritiker, weil sie immer noch ihren Bezug zu Russland in der Unterstützung des Putin-Staates sehen. Sie gehören zum Teil zu der Klientel im Umkreis der AfD. Da gibt es auch Zwist zwischen den Generationen. Die andere Gruppe, das sind die Menschen, die Russland zu Hunderttausenden nach dem Krieg verlassen haben, zumeist aus politischen Gründen.

Zwischen ihnen versuchen wir, Netzwerke herzustellen und das gelingt ganz gut. Wenn jemand zum Beispiel nach Jerewan kommt und auf Telegram schreibt, er brauche eine Bleibe, dann melden sich sehr viele Helfer. Zudem nehmen jetzt geflüchtete Russen auch Kontakte zu einheimischen Nichtregierungsorganisationen auf. Es gibt viele Initiativen für Kinder und Jugendliche. So wirken Lehrkräfte, die Russland verlassen haben, in Sonntagsschulen mit, zu denen nicht nur russische Kinder kommen, sondern auch einheimische. Hoffentlich wird sich das ausweiten.

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ARCHIV - 09.12.2019, Frankreich, Paris: Wolodymyr Selenskyj (l-r), Präsident der Ukraine, Angela Merkel (CDU), ehemalige Bundeskanzlerin, Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, und Wladimir Putin, Präsident von Russland, nehmen an einer gemeinsamen Pressekonferenz im Elysee-Palast teil. Das Treffen im Dezember 2019 war das letzte Mal, dass sich die Staats- und Regierungschefs der vier Nationen persönlich trafen, um zu versuchen, das 2015 ins Stocken geratene Friedensabkommen für die Ostukraine wiederzubeleben. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (zu dpa "Wie wird der Ukraine-Krieg enden?") Foto: Charles Platiau/Reuters Pool/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Kriegsparteien können nicht „an den Verhandlungstisch gezwungen werden“

Der Philosophieprofessor Thomas Kater fordert ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Friedensperspektive. „Wir müssen über diesen konkreten Krieg hinausdenken“, sagt er. Zugleich kritisiert er ein moralisches Schwarz-Weiß-Denken.

Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit der Krieg in der Ukraine beendet wird?

Wenn ich das wüsste. Ich glaube, niemand auf der Welt weiß das. Es hängt von vielen Faktoren ab. Unsere gemeinsame Arbeit muss darin bestehen, alles dafür zu tun, dass die Ukraine weiterhin militärische Hilfe erhält, damit sie Russland zwingen kann, wenigstens zur Situation von vor dem Kriegsbeginn zurückzukehren. Wenigstens. Mann muss wahrscheinlich immer in Etappen arbeiten und gleichzeitig über verschiedene Szenarien nachdenken, was später geschehen könnte. Zum Beispiel auch darüber, was eine Niederlage für Russland bedeuten könnte.

Was halten Sie von Friedensinitiativen, wie beispielsweise dem Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer?

Ich halte davon gar nichts. Ich glaube, dahinter steckt auch die eigene Behaglichkeit. Ein Zurückwollen in eine Welt, die man für sich gebaut hat. Die Welt des Pazifismus und der Abrüstung, von der wir geglaubt haben, dass wir mit ihr das Ende der Geschichte erleben. Aber diese Welt ist zusammengebrochen. Wir können nicht einfach die Augen verschließen. Ein Frieden um jeden Preis bedeutet eigentlich eine Niederlage für die Ukraine und einen Vorsprung für Putin. Wenn man nur bedenkt, was in diesem Krieg schon für Verbrechen geschehen sind, kann man dem nicht zustimmen.

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