Russische Soldaten auf Menschenjagd

Die Gejagten: Wie Russland Ukrainer mit Namenslisten verfolgt

Ukrainische Soldaten gehen eine Straße entlang, in der schwere Kämpfe mit der russischen Armee stattfanden.

Ukrainische Soldaten gehen eine Straße entlang, in der schwere Kämpfe mit der russischen Armee stattfanden.

Kiew. Drei Tage nachdem die ersten Bomben sein Land trafen, ging Andrij Kuprasch in den Wald und begann zu graben. Er hob eine kleine Grube aus – für alle Fälle. Einen Ort, um sich niederzulegen, sollte der Vorsteher eines Dorfes nördlich von Kiew darauf angewiesen sein.

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Eine Woche später erhielt er morgens einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Ein Mann, der Russisch sprach, fragte ihn, ob er der Dorfvorsteher sei. „Nein, Sie haben die falsche Nummer“, log Kuprasch. „Wir werden dich sowieso finden“, antwortete der Mann. „Es ist besser, mit uns zu kooperieren.“ Kuprasch schnappte sich Campingausrüstung und seinen wärmsten Mantel und machte sich auf zu seiner Grube im Wald.

Die Jagd war eröffnet

In einer gezielten, großangelegten Kampagne stellten russische Kräfte Ukrainern mit Einfluss nach. Mit Hilfe von Gefangennahmen, Folter und Hinrichtungen sollte der Widerstand gebrochen werden, wie Recherchen der Nachrichtenagentur AP ergaben. Die Strategie ist offenbar, gegen das Kriegsvölkerrecht und internationale Konventionen zu verstoßen. Dies könnte die Grundlage für Genozid-Prozesse bilden.

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Russische Truppen verfolgten Ukrainer anhand von Namenslisten, die mit der Hilfe der russischen Geheimdienste erstellt wurden. Im Fadenkreuz waren Regierungsvertreter, Journalisten, Aktivisten, Veteranen, Religionsvertreter und Anwälte.

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Die AP dokumentierte einen Ausschnitt dieses Vorgehens mit 61 Fällen aus der ganzen Ukraine. Dabei stützte sie sich auf russische Namenslisten, die in den Besitz ukrainischer Behörden gelangten, auf Fotobeweise von Misshandlungen, russische Medienberichte, Interviews mit Dutzenden Opfern, deren Familienangehörigen und Freunden, außerdem auf Angaben ukrainischer Amtsträger und von Aktivisten.

Einige Opfer wurden in Gefangenenlagern festgehalten, wo sie verhört, geschlagen und mit Stromschlägen traktiert wurden, wie Überlebende berichteten. Einige wurden nach Russland gebracht. Andere starben.

Folter zur Informationsbeschaffung

In drei der von der AP nachrecherchierten Fälle wurden Menschen mit Folter dazu gebracht, Information über andere preiszugeben. In drei anderen Fällen nahmen Russen Familienmitglieder, darunter ein Kind, gefangen, um Druck auszuüben. Es war ein Muster, das sich landesweit wiederfand, wie aus den Aussagen hervorgeht, die die AP aus besetzten und vormals besetzten Gebieten um die Regionen Kiew, Cherson, Saporischschja, Tschernihiw und Donezk zusammengetragen hat.

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„Was man hier sieht, ist das Spielbuch eines autoritären Regimes, das dem Gebiet unverzüglich den Kopf abschlagen und die Führung eliminieren will“, sagte Stephen Rapp, ein früherer US-Sonderbotschafter im Bereich Kriegsverbrechen, der die Ukraine bei der Strafverfolgung berät.

Die Listen sind Bestandteil einer zunehmenden Beweislast, die darauf hindeutet, dass ein Großteil der Gewalt in der Ukraine eher geplant als zufällig war. Russland setzte Brutalität als Kriegsstrategie ein, empfangen und durchgesetzt innerhalb der Kommandostrukturen seines Militärs und seiner Geheimdienste.

„Säuberungsaktionen“ gegen Zivilisten

Die AP dokumentierte auch Muster der Gewalt gegen Zivilisten, darunter tödliche „Säuberungsaktionen“ entlang einer Front des Krieges, an der ein russischer General das Kommando hatte, der in Kriegsverbrechen in Syrien verwickelt sein soll.

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Unter Führung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB verbrachten russische Geheimdienstler Monate damit, die Listen vor der Invasion vom 24. Februar zusammenzustellen. Das zumindest attestieren geleakte US-Geheimdienstangaben und britische Sicherheitsanalysten.

Ukrainische Geheimdiensterkenntnisse legen wiederum nahe, dass die Abteilung des FSB, die mit der Planung der Besetzung und Unterwerfung der Ukraine betraut ist, im Sommer 2021 deutlich personell aufgestockt wurde, wie die Londoner Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) berichtete. „Diese politische Strategie gezielter Tötungen wurde von einer sehr hohen Ebene innerhalb des Kreml gesteuert“, sagte RUSI-Forscher Jack Watling.

Mehr als 770 Gefangennahmen von Zivilisten

Das Center for Civil Liberties, eine ukrainische NGO, hat seit Russlands Einmarsch mehr als 770 Gefangennahmen von Zivilisten dokumentiert, unterstreicht aber, das sei nur die Spitze des Eisbergs.

Während sich Kuprasch in seinem Loch im Wald versteckte, durchsuchten mehr als ein Dutzend russische Soldaten sein Haus und hielten seinem 15-jährigen Sohn ein Messer an die Kehle. Sie drohten, ihm die Eingeweide herauszureißen, wenn er seinen Vater nicht preisgebe.

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Vater und Sohn hatten sich auf einen Code geeinigt: Nenn mich „Tato“ – Papa – wenn alles okay ist. Nenn mich „Andrij“, wenn es Probleme gibt. Von Soldaten umzingelt ging sein Sohn in den Garten und rief so laut er konnte: „Andrij! Andrij! Andrij!“

Drei Wochen später kamen die Russen erneut zu Kupraschs Zuhause. Ein Kommandeur setzte sich mit ihm an den Küchentisch und versprach ihm bei vorgehaltener Waffe „ein großartiges Leben“ im Tausch gegen Informationen über ukrainische Positionen, Namen von ukrainischen Veteranen und Patrioten. Kuprasch insistierte, er habe keinen Zugang zu solchen Informationen.

Dutzende Einwohner des Dorfs Babynzi hatten sich draußen versammelt. Kuprasch dachte, vielleicht habe die Menschenmenge ihn vor Schlimmerem bewahrt. Beim nächsten Mal sollte er weniger Glück haben.

Am 30. März tauchten drei russische Fahrzeuge vor dem Rathaus auf. „Wer ist der Dorfvorsteher“, fragten die Soldaten. „Das bin ich“, sagte Kuprasch, und trat nach vorn. „Andrij?“, fragten sie. „Ja.“

„Wir haben dich gefunden“, sagte einer der Soldaten. „Du bist tot.“

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Mit einem Gewehr schlugen sie Kuprasch gegen den Kopf, schleuderten ihn in den hinteren Teil eines Autos und fuhren zu einem Friedhof im Wald. Einer der Soldaten zog ein langes Messer und hielt es Kuprasch an den Hals. „Dieses Messer hat neun Menschen getötet. Du wirst der Zehnte sein“, sagte er.

Mit dem Tod für Informationen bezahlen

Sie warfen ihm vor, die Positionen russischer Truppen ukrainischen Behörden gemeldet zu haben – was Kuprasch nach eigenen Angaben gegenüber der AP auch tat. Nach dem Kriegsvölkerrecht könnte Russland Beobachter wie Kuprasch unter „humanen“ Bedingungen festnehmen, sie aber unter keinen Umständen verschwinden lassen oder foltern, wie Menschenrechtsanwälte sagen.

Als er am Waldfriedhof ankam, zwangen Dutzende russische Soldaten Kuprasch, sich auszuziehen. Sie stießen ihn im Kreis herum, verspotteten und beleidigten ihn, wie er sagte. Sie gaben ihm einen Spaten und befahlen ihm, in der gefrorenen Erde sein eigenes Grab zu schaufeln.

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Während die Ukraine mehr Gelände zurückerobert, nehmen auch die Berichte über jene zu, die russische Soldaten verschwinden ließen. Sie zu finden und nach Hause zu bringen, ist nicht leicht.

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Einer von denen, die man in Cherson verschwinden ließ, ist Serhij Zyhipa, Blogger, Aktivist und Militärveteran. Er verschwand am 12. März und tauchte sechs Wochen später in einem prorussischen Fernsehbericht wieder auf. Ausgemergelt und hohläugig käute er russische Propaganda wieder. Die ukrainische Polizei analysierte das Video und sagte der AP, er habe eindeutig unter Zwang gestanden.

Zyhipas Familie hat mit Anwälten, NGOs und internationalen Organisationen gesprochen, mit ukrainischen Geheimdienstlern und Journalisten. Nichts hat ihn nach Hause gebracht.

Kuprasch war einer der Glücklichen. Nachdem er dem Boden sein flaches Grab abgerungen hatte, warf der Kommandeur seine Kleidung auf ihn und wies ihn an, eine Zigarette zu rauchen.

Es ging zurück ins Dorf. Der Kommandeur verfluchte den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kuprasch hielt den Mund und betete. Sie stoppten vor dem Rathaus. Kuprasch kletterte aus dem Auto.

„Lebe“, sagte der Kommandeur. Er wendete und fuhr davon.

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RND/AP

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