Spitzenrunde ohne Spitzen
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Joachim Herrmann (CSU) und Christian Lindner (FDP), Ursula von der Leyen (CDU), ARD-Moderatorin Tina Hassel, ZDF-Moderatorin Bettina Schausten, Manuela Schwesig (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90 / Die Grünen) und Sahra Wagenknecht (Die Linke) (v.l.n.r.).
© Quelle: dpa
Berlin. Es ist als letzte Runde der Spitzenkandidaten vor der Bundestagswahl angekündigt, aber als ARD und ZDF am Donnerstagabend um 22 Uhr live auf Sendung gehen, fehlen ausgerechnet die Spitzen von CDU und SPD. Erst hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Teilnahme abgesagt, dann SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
Jeweils drei Mal hatten sich die Kanzlerin und ihre Herausforderer in den vergangenen drei Wochen in sogenannten Wahl-Arenen den Fragen der Studiogäste gestellt. Und sie hatten sich beim TV-Duell direkt gegenübergestanden. Das muss reichen, dachten sich Merkel und Schulz wohl – und ließen sich bei der Schlussrunde von ihren Vizes vertreten. Für die CDU nahm Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen teil. Die SPD schickte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig ins Rennen – auch wenn die gar nicht für den Bundestag kandidiert.
Die Zusammensetzung
Sechs Frauen, drei Männer – eine solche Geschlechterverteilung hat im politischen Berlin Seltenheitswert. Sie kam auch deshalb zustande, weil sowohl Grüne als auch Linke mit Katrin Göring-Eckardt und Sahra Wagenknecht den weiblichen Teil ihrer Spitzenduos schickten. Und weil die TV-Sender mit Bettina Schausten (ZDF) und Tina Hassel (ARD) zwei Moderatorinnen aufboten. Für Christian Lindner (FDP), Joachim Herrmann (CSU) und Alexander Gauland (AfD), die alle drei aus männerdominierten Parteien stammen, war die geballte Weiblichkeit ungewohnt. Die verbreitete These, dass Frauen in Diskussionen disziplinierter als Männer sind, darf seit Donnerstagabend übrigens als widerlegt gelten.
Der Gänsehautmoment
Zu Beginn der Sendung geht es um den Zustand des Landes. Die Runde diskutiert über die Wut, die den Politikern bei Wahlkampfauftritten vor allem im Osten der Republik entgegenschlägt. AfD-Spitzenkandidat Gauland muss sich rechtfertigen und gegen den Vorwurf wehren, dass seine Partei die Wut der Menschen angestachelt. Gauland sieht das nicht so. Der AfD-Mann sagt, er habe im Wahlkampf keine einzige Kundgebung erlebt, wo er selbst nicht von Christdemokraten oder Vertretern der Antifa niedergebrüllt worden sei – und empfiehlt weniger Empfindlichkeit.
Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt platzt der Kragen. “Ich halte das aus, dass man mich in sozialen Netzwerken als Schlampe bezeichnet. Und ich halte es aus, dass Menschen sagen, sie wollten mich vergewaltigen. Aber das betrifft eben auch viele andere. Wir haben viel zu tun, die Demokratie zu verteidigen.”
Der Schlagabtausch
Es gehört inzwischen zur rhetorischen Masche von Alexander Gauland, dass er seine Provokationen relativiert - und gleichzeitig wiederholt. Am Donnerstagabend tut er dies, indem er noch Mal lang und breit seinen Satz erklärt, dass man die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, “in Anatolien entsorgen” müsse.
SPD-Vize Manuela Schwesig wird an dieser Stelle wütend. “Ihr Ton erinnert mich an den Ton von Nazis”, sagt sie. Gauland retourniert: “Sie wissen wohl nicht mehr, was Nazis waren”. Schwesig allerdings lässt sich nicht beirren. “Sie spalten unser Land”.
Die Überraschung
Politisch gibt es an diesem Abend wenig Neues. Die Argumente sind am Ende des Wahlkampfes weitgehend ausgetauscht. Spannend ist die Reaktion von Gauland auf ein neues Zitat seiner Parteichefin Frauke Petry. Die hatte der Leipziger Volkszeitung gesagt, dass sich viele bürgerliche Wähler von ihrer Partei abwenden. Sie „verstehe, wenn die Wähler entsetzt sind“ angesichts radikaler Äußerungen der Spitzenkandidaten. “Das finde ich völlig falsch”, sagt Gauland. „Ich verstehe Frauke Petry nicht.“ Die AfD trägt ihren Machtkampf auf offener Bühne aus. Bei jeder anderen Partei würde ein öffentlich zur Schau gestelltes Zerwürfnis zwischen Parteiführung und Spitzenkandidat zur Implosion der Kampagne führen. Bei der AfD haben sich die Wähler offenbar daran gewöhnt.
Das Streitthema
Gerechtigkeit – das ist nach wie vor das Thema, bei dem die Emotionen am meisten hochkochen. Jeder ist dafür, jeder versteht darunter etwas anderes. CDU-Frau von der Leyen sagt, dass es dem Land doch eigentlich sehr gut gehe. Ihre SPD-Kollegin Schwesig findet das im Prinzip auch – besteht aber darauf, dass das nicht für alle Menschen gelte. Linke und Grüne betonen die Armut, die vor allem bei Kindern wieder ansteige. Gemessen an der Leidenschaft, mit der die Diskussion geführt wird, ist schon erstaunlich, warum SPD-Chef Martin Schulz mit dem Thema nicht stärker durchgedrungen ist.
Fazit
Alles in allem keine schlechte Runde. Informativ aber ohne großen Neuigkeitswert. Wer früher ins Bett gegangen ist, hat deshalb nichts verpasst. Wer bis zum Ende durchgehalten hat, hat ein bisschen was gelernt. Und konnte danach gut einschlafen.
Von Andreas Niesmann/RND