Flieger sind voll besetzt: Warum immer mehr Russen in die Türkei fliehen
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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, hört dem russischen Präsidenten Putin zu.
© Quelle: Vyacheslav Prokofyev/Pool Sputni
Manche bringen ganze Kofferberge mit, andere haben in der Hast des überstürzten Aufbruchs nur einen Rucksack mit den nötigsten Habseligkeiten vollgestopft. Die Hochsaison ist längst vorbei, aber immer noch sind die Maschinen, die aus Moskau, Sankt Petersburg oder Sotschi am Flughafen der Touristenhochburg Antalya landen, voll besetzt. Es ist nicht das übliche Pauschalreisenpublikum, das aus den Fliegern steigt. Auffallend viele junge Männer stehen vor der Passkontrolle an. Viele reisen allein, manche in kleinen Gruppen. Sie kommen, um zu bleiben.
Geschätzt 400.000 Russen sind laut westlichen Regierungsquellen aus ihrer Heimat geflohen, seit Präsident Wladimir Putin am 21. September die Mobilmachung verkündete. Viele kamen in die Türkei. Das Land steht bei Russinnen und Russen traditionell hoch im Kurs. Was für die Deutschen Mallorca, ist für russische Urlaubsreisende Antalya. Strandurlaub an der türkischen Riviera, Shoppen in Istanbul: 2019 kamen sieben Millionen russische Reisende in die Türkei, 2021 waren es, trotz Corona, immerhin 4,7 Millionen.
Russen brauchen kein Visum für eine Einreise in die Türkei
Für die Einreise benötigen Bürger der Russischen Föderation nur einen gültigen Pass. Ein Visum ist nicht erforderlich. Wer als Tourist kommt, kann bis zu 90 Tage bleiben. Eine Verlängerung des Aufenthalts bis zu einem Jahr ist problemlos möglich, wenn man eine Unterkunft und ein Einkommen nachweisen kann. Das macht die Türkei zu einem Magneten für russische Männer, die vor der Einberufung fliehen.
Als einziges Nato-Land setzt die Türkei die Sanktionen des Westens gegen Russland nicht um. Das betrifft auch den Flugverkehr. Täglich gibt es 100 bis 120 Flüge zwischen russischen und türkischen Flughäfen. Die Nachfrage ist groß, vor allem Richtung Türkei. Entsprechend teuer sind die Tickets. Nach dem 21. September schoss der Preis für einen einfachen Flug zeitweilig auf bis zu 4000 Euro. Rückflüge nach Russland sind weniger gefragt und deshalb deutlich billiger. Viele Maschinen, die vollbesetzt in der Türkei landen, fliegen halb leer wieder zurück.
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„Ich will keine Menschen töten“
Viktor und Alexej kommen aus unterschiedlichen Ecken in Russland. Beide jungen Männer aber sind geflohen – um nicht wie so viele andere im brutalen Krieg in der Ukraine zu enden. Was sie erzählen, was die Politik verspricht und wie eine Ukrainerin über das Thema denkt.
Allein in Antalya kamen bisher in diesem Jahr über drei Millionen russische Touristen und Touristinnen an. An den Istanbuler Flughäfen trafen im September 170.230 Gäste aus Russland ein. Wie viele von ihnen Geflüchtete sind und die Rückreise nicht antreten, geht aus den bisher veröffentlichten Statistiken nicht hervor.
Inzwischen strenge Kontrollen an russischen Flughäfen
An den russischen Flughäfen gibt es inzwischen strenge Kontrollen. Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 Jahren und dem Renteneintritt werden an der Passkontrolle eingehend befragt. Wer kein Rückflugticket hat, muss damit rechnen, nicht aus dem Land gelassen zu werden. Viele Kriegsdienstverweigerer buchen deshalb Pauschalreisen und lassen den Rückflug verfallen. Andere schlagen sich über Kasachstan, Georgien oder Armenien in die Türkei durch, um die Flughafenkontrollen zu umgehen.
Einmal in Istanbul oder Antalya angekommen, organisieren sich die Exilrussen über Telegram-Gruppen und andere soziale Netzwerke. Dabei geht es um Fragen wie Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnis und die Suche nach einer Unterkunft. Ein großes Problem sind Finanztransaktionen. Fünf große türkische Banken hatten sich dem Zahlungssystem Mir angeschlossen, der russischen Variante des Swift-Verfahrens. So konnten Russen in der Türkei nicht nur mit ihren eigenen Kreditkarten bezahlen, sondern auch an den Geldautomaten Transaktionen durchführen und Bargeld abheben.
Putin schlägt Türkei neue Pipeline vor
Der russische Präsident Putin schlug vor, in der Türkei einen Knotenpunkt für Gaslieferungen in die EU aufzubauen.
© Quelle: Reuters
Auf Druck der USA, die darin einen Verstoß gegen die Finanzsanktionen sehen, haben die türkischen Banken aber das Mir-System Ende September deaktiviert. Das bringt nicht nur russische Touristen und Geflüchtete in Zahlungsschwierigkeiten, sondern auch Tausende russische Firmen, die sich in den vergangenen Monaten in der Türkei niedergelassen haben, um die Sanktionen des Westens zu umgehen. Die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete jetzt, die türkische Zentralbank verhandele mit der russischen Notenbank über die Einrichtung eines alternativen Zahlungssystems. Was die USA dazu sagen, bleibt abzuwarten.
Erdogan wandelt in seiner Russland-Politik auf einem schmalen Grat
Der türkische Staatschef Erdogan wandelt in seiner Russland-Politik auf einem schmalen Grat. Er liefert einerseits Drohnen an die Ukraine, die den russischen Streitkräften bereits erhebliche Verluste zugefügt haben, hofiert aber zugleich Kremlchef Wladimir Putin als seinen wichtigsten Energielieferanten. Putin wiederum ist auf die Türkei als eines der wenigen noch offenen Fenster für Russlands Außenhandel und eine Hintertür für die Umgehung der Sanktionen angewiesen.
Viele Hightechprodukte, die den Sanktionen unterliegen, kommen auf dem Umweg über die Türkei nach Russland. Das erklärt, warum die türkischen Exporte nach Russland in diesem Jahr um fast 90 Prozent gewachsen sind. Die Zahl der Firmengründungen mit russischem Kapital in der Türkei hat sich gegenüber 2020 sogar verdreifacht. Immer mehr russische Unternehmen gründen Niederlassungen in Istanbul, um so die Sanktionen zu umgehen.
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Warum Tschetschenen für die Ukraine kämpfen
In der Ukraine kämpfen Tschetschenen auf beiden Seiten: Tausende mit den Russen, Hunderte aber auch gemeinsam mit den Ukrainern. Einer davon warnt davor, dass die Großmachtgelüste von Kremlchef Putin nicht bei der Ukraine enden werden – und hat eine eindringliche Botschaft an Deutschland.
Antalya: ganze Straßenzüge in russischer Hand
Ob Kriegsdienstverweigerer, wohlhabende Dissidenten oder gut verdienende Manager: Die Zuwanderung aus Russland macht sich auf dem Immobilienmarkt bemerkbar, vor allem in Antalya. In der Umgebung des Matroschka-Parks sind bereits ganze Straßenzüge fest in russischer Hand. Hier hört man mehr Russisch als Türkisch. Das ist nicht allen Einwohnern willkommen. In manchen Stadtteilen haben sich die Mieten seit dem vorigen Jahr verfünffacht.
Das liegt nicht nur an der Inflation von 85,5 Prozent, sondern vor allem an der Nachfrage russischer Zuwanderer. Wer mindestens 400.000 Dollar in eine Immobilie investiert, bekommt sogar die türkische Staatsangehörigkeit dazu. Häuser und Wohnungen sind für viele Einheimische unerschwinglich geworden. In Antalya haben deshalb die Behörden in mehreren Stadtteilen den Verkauf und die Vermietung von Wohnungen an Ausländer bereits verboten.