TV-Talk bei “Illner”: Scholz - “Wir können allen helfen”
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Olaf Scholz (SPD), Bundesminister der Finanzen
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Berlin. Die aktuelle Situation ist unkalkulierbar. Das Coronavirus breitet sich in Deutschland, Europa und der Welt unaufhaltsam aus; Experten und Politiker wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprechen gebetsmühlenartig von einer “dynamischen Lage”.
Welche Auswirkungen das Virus auf das Alltagsleben, die Wirtschaft und zahlreiche andere Bereiche haben wird, ist aktuell schon deutlich spürbar. Und doch könnten die Folgen in nächster Zeit noch drastischer zu Tage treten.
Am Donnerstag stand auch der TV-Talk von Maybrit Illner im Zeichen des Coronavirus, übrigens vor leeren Zuschauerrängen. Der Schwerpunkt lag auf den möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen der Krise und der Frage, ob man ein Land abschotten kann – so wie es jüngst in Italien geschehen ist.
Dazu hatte das ZDF nicht nur Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), sondern auch weitere Wirtschaftsvertreter und -experten eingeladen.
Die Gäste bei Maybrit Illner
Olaf Scholz: Der Bundesfinanzminister und Vizekanzler verspricht: “Wir werden alles tun, um die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu sichern.”
Hildegard Müller: Für die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA) ist klar: “Ganz Deutschland unter Quarantäne zu stellen, ist illusorisch.”
Christian Drosten: Der Leiter des Instituts für Virologie der Berliner Charité erklärt: “Wir erleben eine Naturkatastrophe, die in Zeitlupe abläuft.”
Valerie Haller: Die ZDF-Börsen- und Finanzexpertin sagt: “Den Unternehmen helfen Kredite, Bürgschaften oder Steuererleichterungen.”
Svenja Flaßpöhler: Die Chefredakteurin des “Philosophie Magazins” sagt: “Wir haben keine andere Chance, als den Experten zu vertrauen.”
Das Abwäge-Thema: Schulschließungen
Ob Schulen, Universitäten und Kitas geschlossen werden, beschäftigte am Donnerstag bereits die Kultusministerkonferenz. Unter diesem Stern stand in Teilen auch das Zusammentreffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie einigen Wissenschaftlern – und die Runde bei Maybrit Illner.
Virologe Drosten, der erneut einen sehr nüchternen Eindruck hinterließ und in seinen Erklärungen die passende, volksnahe Tonalität traf, hatte allerdings auch keine eindeutige Antwort auf die Frage parat. Wohlgemerkt: Die kann es auch nicht geben.
“Wenn wir alles tun, retten wir Menschenleben”, sagte Drosten, gab aber auch zu bedenken, dass man Menschenleben riskiere, wenn medizinisches Personal zu Hause bliebe, um im Falle einer Schul- oder Kitaschließung etwa die eigenen Kinder zu betreuen.
Eindrucksvoll wirkte Drostens Abwägung: “Wir müssen eigentlich davon ausgehen, dass alle Altersgruppen ziemlich gleichmäßig betroffen sein werden.” Kinder und Jugendliche repräsentierten seinen Ausführungen zufolge ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung. “Haben wir da etwas gewonnen, wenn wir diese 20 Prozent aus den Schulen rausholen?”
Aber Schüler hätten auf der anderen Seite mit Jüngeren und Älteren gleichermaßen zu tun – und könnten so wiederum zur Gefahr für die Risikopatienten werden. Deshalb legte sich Drosten fest: “Ich bin für wohlüberlegte Schulschließungen.”
Das Top-Thema: Wirtschaft
Dass die Ausbreitung des Virus ganz massive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Konjunktur in Deutschland und der Welt hat, ist unbestritten. Doch Finanzminister Scholz sagte ein paar wichtige Sätze.
Erstens: “Wir haben milliardenschwere Reserven, mit denen wir dafür sorgen, dass die Liquiditätsversorgung von Unternehmen unverändert stattfindet.” Zweitens: “Wir können allen helfen, und wir werden es auch.” Und drittens: “Wir haben fast eine Milliarde Euro zusätzlich im Gesundheitswesen bereitgestellt.”
Der SPD-Politiker wollte die angespannte, panische Situation ein wenig auflockern. “Wir sind ganz gut aufgestellt und in der Lage, mit solchen Schocks umzugehen.” Ein wichtiges Instrument aktuell sei die Kurzarbeit. Am Freitag wird ein neues Gesetz verabschiedet – übrigens so schnell wie zuvor noch kein anderes. “Das ist eine große Leistung des Parlamentarismus und der Demokratie”, lobte Scholz.
VDA-Präsidentin Müller wandte sich indes an die Europäische Union. “Die Frage ist: Bleibt der Brenner offen?”, sagte sie hinsichtlich der Handels- sowie Versorgungswege nach Österreich und Italien, bevor sie ergänzte: “Wir brauchen Internationalitäten und koordiniertes Handeln auf EU-Ebene.” ZDF-Expertin Haller fügte später hinzu: “Im ersten Halbjahr ist nicht mit einer Rezession zu rechnen.”
Das vergessene Thema: Risikogruppen
Die Sendung war schon fast vorüber, Illner läutete die Schlussrunde ein, da kam Drosten noch einmal zu Wort und gab es nicht mehr ab. Aus gutem Grund, denn er hatte ein Thema aufgedeckt, das beinahe vergessen worden wäre. “Worüber wir nicht geredet haben”, sagte er, “ist der Schutz der besonders betroffenen Gruppen. Das ist als nächstes auf der Tagesordnung.”
Während man gerade intensiv Verzögerungsmaßnahmen verfolge und sich mit der Diagnostik beschäftige, werde man “da umfokussieren müssen”. Es sei wichtig, “dieselbe Kraft zu investieren, um diese gefährdeten Gruppen beispielsweise schnell ins Krankenhaus zu bekommen”.
Zudem forderte Drosten schnelle Labortests für Verdachtsfälle, die zur Risikogruppe zählen. “Und dann muss der Arzt mal alle zwei Tage anrufen und fragen, wie es mit der Luft ist”, sagte der Virologe. “Da brauchen wir viele pragmatische Lösungen, viele Mitdenker und wahrscheinlich auch weitere Investitionen.”
Das Randthema: Homeoffice
Viele Unternehmen schicken ihre Mitarbeiter in diesen Tagen ins Homeoffice. Hildegard Müller begrüßte das: “Es zeigt die vielen Möglichkeiten, die wir haben, um flexibel und angemessen vorzugehen.”
Dass Arbeitnehmer nun von zu Hause aus arbeiten, könne die Gesamtsituation entlasten – etwa zu den Stoßzeiten im öffentlichen Nahverkehr. Allerdings betonte Müller auch: “In der Produktion ist das etwas anderes.”
Nicht infrage kommt die Heimarbeit derweil für ZDF-Expertin Haller. “Die Börse ist mein Arbeitsplatz, da muss ich hinfahren”, sagte sie kurz und trocken.
Das Un-Thema: Entschleunigung
Während die Runde eigentlich sehr ergiebig diskutierte und unterschiedliche – sinnvolle – Facetten beleuchtete, verlor die studierte Philosophin Svenja Flaßpöhler ein wenig den Kern der Thematik aus dem Auge. Sie fabulierte plötzlich von einer “Radikalunterbrechung”, die “möglicherweise Denkräume eröffnet”.
Die Coronakrise sei die “Chance zur Entschleunigung für manche von uns”, fügte sie an. Wären Zuschauer im Studio gewesen, hätten sie diese Aussagen wohl mit Kopfschütteln bedacht. Es wirkte ein wenig wie der Auszug aus einer Therapiesitzung.
Anschließend befasste sie sich mit dem Begriff der “Solidarität”, das aber nicht zu Unrecht. “Interessant ist, dass die Bedeutung eigentlich verdreht wird”, merkte sie an. Zunächst habe “Solidarität” gemeint, körperliche Nähe zu suchen. “Und jetzt zeigt sie sich darin, dass ich mich zurückziehe. Das ist ein Umdenken.”
Fazit
Die Streitkultur ist den Talkshows seit einigen Wochen abhanden gekommen – und das ist angesichts des ernsten Themas auch absolut richtig. Harmonie dominiert die Diskussionsrunden im Moment, das öffnet Raum für ernsthafte, sachliche und wohlüberlegte Argumente und Vorschläge. Diesen Raum nutzten die Teilnehmer am Donnerstagabend überwiegend.
Den Satz des Tages sagte indes – wer auch sonst – der wieder einmal gut aufgelegte Virologe Drosten: “Ich muss nicht zurücktreten, ich bin nämlich Universitätsprofessor.” Jene Aussage tätigte er nach einem kurzen, leicht genervten Hinweis darauf, er werde “ständig verkürzt”. “Ich bestehe darauf, dass das Thema eine längere Aufmerksamkeitsspanne braucht als nur eine Schlagzeile.”
Doch nach diesem kurzen – und sicherlich nicht unberechtigten – Seitenhieb wandte er sich wieder dem eigentlichen Kern zu, argumentierte klug und überzeugte. Wie der Großteil der Runde. Nur die Philosophin Flaßpöhler wirkte teilweise wie ein Fremdkörper.