„Es gibt nichts Schlimmeres als die Gewöhnung an den Krieg“
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Ein Hospital in der ukrainischen Stadt Dnipro wurde Ende Mai durch russischen Raketenangriffe total zerstört. Eine Person kam ums Leben, 15 wurden verletzt.
© Quelle: IMAGO/Cover-Images
Berlin. Die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko ist früher viel gereist, hat oft für mehrere Wochen, Monate oder auch Jahre den Aufenthaltsort gewechselt. Aber ihr Zuhause in der Stadt Lwiw blieb für sie immer der Ort, „an den ich jederzeit zurückkehren und immer bleiben konnte. An dem ich in Sicherheit und von vertrauten Menschen umgeben war.“ So schreibt es die Autorin in einem Brief an ihre deutsche Schriftstellerkollegin Tanja Dückers.
Im vergangenen Jahr begannen Sniadanko und Dückers quasi öffentlich zu schreiben. Denn was die beiden Autorinnen sich zu sagen haben, kann jeder nachlesen – im Internet. Auf dem bereits 2017 in Berlin ins Leben gerufenen Literaturportal „Weiter schreiben“ veröffentlichen Autoren und Autorinnen, die aus Krisengebieten in aller Welt geflüchtet sind.
„Für Schreibende ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht“, sagt die Autorin Annika Reich, die Mitgründerin von „Weiter schreiben“ und heute dessen künstlerische Leiterin ist. Und so begannen im Herbst 2022 auch drei ukrainisch-deutsche Autorinnentandems, sich in Briefen, E-Mails und Textnachrichten auszutauschen. Eines davon sind Natalka Sniadanko und Tanja Dückers.
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Talkrunde im Projektzentrum Berlin der Mercator-Stiftung: Kulturwissenschaftlerin Kateryna Stetsevych mit den Schriftstellerinnen Natalka Sniadanko und Tanja Dückers (v. l. n. r).
© Quelle: Rebecca Ellsäßer / "Weiter Schreiben"
Mit ihrer literarischen Korrespondenz in Kriegszeiten wollen sie versuchen, einen Raum des Zuhörens und der Solidarität zu stiften. „Das Haus, in dem wir früher gelebt haben, ist noch heil, und auch unsere Wohnung ist nicht beschädigt“, schreibt Sniadanko an Dückers und fährt fort: „In ihr leben jetzt fremde Menschen. Sie sind Flüchtlinge wie wir. Wie auch wir wissen sie nicht, wie es mit uns allen weitergeht. Ab und an schlagen in der Nähe unseres Hauses Bomben ein.“
Der Briefwechsel der beiden Frauen gibt Einblick in ihr Seelenleben, in Sorgen und Ängste, welches Unheil der brutale russische Angriffskrieg in der Ukraine noch bringen wird.
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Während die 1973 in Lwiw geborene preisgekrönte Natalka Sniadanko 2022 mit ihren Kindern nach Deutschland geflohen ist und heute in Marbach und Leipzig im Exil lebt, schreibt Tanja Dückers sozusagen von zu Hause aus. 1968 in Berlin (West) geboren, wohnt die Verfasserin von Romanen, Gedichtbänden und Kinderbüchern auch heute noch hier und sieht die Ukraine aus deutschem Blickwinkel.
Sniadanko schreibt, bislang sei die Antwort auf die Frage, wo ihr Zuhause ist, ganz einfach gewesen: „In der Ukraine, genauer gesagt in Lwiw.“ Und Dückers schreibt, dass sie es sich gar nicht vorstellen könne, so weit weg von zu Hause zu leben, keine Freunde mehr zu treffen, den eigenen Mann nicht sehen zu können.
Sniadanko berichtet von Telefonaten mit ihren Eltern und dass sie inzwischen auf Bombardements mehr oder weniger gelassen reagieren, dass Bomben auf Städte wie Mykolajiw, Cherson und Mariupol niemanden mehr erstaunen. Aber: „In Kiew und Lwiw schockiert das noch. Und das ist gut so. Es gibt nichts Schlimmeres als die Gewöhnung an den Krieg, daran, dass tagtäglich Menschen getötet werden““, betont die ukrainische Schriftstellerin.
Dückers teilt diese Auffassung, das wird auch in einer Talkrunde der Stiftung Mercator in Berlin deutlich, bei der die beiden Autorinnen unter anderem über die „zunehmende Gleichgültigkeit und Nachrichtenmüdigkeit“ der Menschen in Deutschland sprechen und konstatieren, dass im täglichen Lebensumfeld immer öfter Stimmen zu hören sind, die die Schreckensnachrichten aus der Ukraine nicht mehr hören und sehen wollen.
„Die unausgesetzten Bilder von Zerstörung und Mord schockieren nicht mehr, die Leute werden ihrer überdrüssig““, schreibt Sniadanko.
Und Dückers antwortet: „Es ist furchtbar, dass auch Kriege der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, dass viele Menschen mal eben ‚Ukraine‘ mit ‚Katar‘ ersetzen. Da denkt man beinahe: ‚Gut‘, dass Butscha sich relativ kurz nach Kriegsbeginn ereignet hat, jetzt würden diese Verbrechen vielleicht weniger aufrütteln. Ich mache jedoch auch die Erfahrung, dass Leute sich genau hierüber Gedanken machen und sagen: Nein, der Angriffskrieg auf die Ukraine darf jetzt nicht zur mentalen Gewohnheit für uns werden.“
Dass so etwas Schreckliches wie Krieg zur Gewohnheit wird, sei „eigentlich total pervers“, findet die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Kateryna Stetsevych, die die Talkrunde moderiert, in der es nicht nur um nachlassende Empathie, sondern dann auch ums deutsche Jammern geht. „Über hohe Gaspreise und dass das Lieblingssonnenblumenöl gerade nicht im Supermarkt zu haben ist“, wie Dückers es ironisiert.
Der deutsche Pfennigfuchser würde inzwischen immer mehr nachrechnen, „was uns der ganze ‚Spaß' wohl noch kostet“, sagt die deutsche Autorin und fordert eine stärkere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der russischen Rechtfertigung des Krieges ein.
„Wir haben viel zu lange das russische Narrativ übernommen, dass die Ukraine eigentlich kein eigenständiges Land und dass Ukrainisch eigentlich nur ein russischer Dialekt ist“, sagt Dückers selbstkritisch mit Blick auf Deutschland. In der westdeutschen Geschichtsschreibung sei zwar vieles an der Sowjetunion kritisiert worden, aber die Vereinnahmung der „Brudervölker“ spielte keine Rolle – weder in Ost noch in West.
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Funny van Dannen über den Krieg: „Pazifistisch war ich nie eingestellt“
Der Krieg in der Ukraine nehme ihn wirklich mit, sagt Funny van Dannen. Er mache ihn ratlos, erklärt der Autor und Liedermacher, der sonst alles ironisch bricht. Ein Gespräch über Pazifismus, Widerstand – und wie man in Würde altert.
Es fehle in Deutschland das Bewusstsein, dass die Sowjetunion nicht mit Russland gleichzusetzen ist, sagt Dückers und erinnert daran, was Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine angerichtet haben. Sieben Millionen Ukrainer seien umgekommen, Tausende Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden.
Sniadanko sagt, parallel zum „normalen Krieg“ laufe jetzt ein Informationskrieg um die Geschichtsdarstellung. Immer wieder begegne man in Deutschland Fragen danach, ob die Ukraine wirklich unabhängig sei oder seit wann sie denn überhaupt existiere. „Es gibt enorme Wissenslücken“, hat Sniadanko beobachtet und schlägt vor: „Wir brauchen Projekte und Bücher, die über den russischen Postkolonialismus aufklären.“
Auf der anderen Seite lobt Dückers auch „viel Positives“ und sagt: „Es gibt bei uns eine Menge Menschen, die sich für die Ukraine engagieren und ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen haben.“ Und sie lobt ihre ukrainische Kollegin, unter anderem für deren „sehr lesenswerten Blog“, in dem sie über ihre Arbeit im Marbacher Literaturarchiv berichtet.
Dückers äußert sich auch anerkennend über die Recherchen der Kollegin zum ukrainischen Bürgerrechtler und Lyriker Wassyl Stus (1938–1985), „der in russischer Lagerhaft starb beziehunsgweise wohl ermordet wurde“.
Stus wurde mehrfach verurteilt – insgesamt zu 23 Jahren Haft. Während seiner letzten Haftjahre im Lager Perm 36 bei Kutschino wurde ihm kein Besuch seiner Familie mehr gestattet. 1983 gelangten dennoch Schriften von ihm in den Westen, 1985 schlug ihn eine internationale Gruppe von Schriftstellern für den Literaturnobelpreis vor.
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Der Krisen-Radar
RND-Auslandsreporter Can Merey und sein Team analysieren die Entwicklung globaler Krisen im neuen wöchentlichen Newsletter zur Sicherheitslage – immer mittwochs.
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Tanja Dückers schreibt dazu: „Stus war für den Literaturnobelpreis nominiert worden, aber mediale Aufmerksamkeit für einen Literaturnobelpreisträger in Lagerhaft war etwas, was die Sowjets unbedingt vermeiden wollten.“
Beide Autorinnen haben die Hoffnung, dass ihr Briefwechsel auf dem Portal „Weiter schreiben“ die Menschen zum Nachdenken anregt, denn „der Krieg“, so schreibt, Sniadanko, „zerstört das Wichtigste – die Fähigkeit, sich sicher und geborgen zu fühlen, die Fähigkeit, sich zu freuen, den Wunsch, die Zukunft zu planen und zu träumen. In jedem, den der Krieg erfasst, stirbt etwas ganz Wichtiges, selbst wenn das auf den ersten Blick unbemerkt bleibt.“