Viele gut ausgebildete Menschen verlassen die Türkei
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Schwer bewaffnet – gegen wen? Bereitschaftspolizei patrouilliert vor der Blauen Moschee in Istanbul, aber auf Straßen und Wegen sind kaum Fußgänger zu sehen.
© Quelle: AFP
Istanbul. Osman Koc aus Istanbul geht. Nicht für ein paar Tage, nicht für ein Semester, sondern für immer. „In drei Wochen sitze ich im Flieger nach Amerika“, erklärt der 29-Jährige. „Ohne Rückflugticket!“
Osman, in Jeans und Holzfällerhemd, gepflegter Bart zum Pferdeschwanz, sitzt in seinem Großraumatelier in Yeldegermeni, einem Viertel im asiatischen Teil Istanbuls. Vor allem Künstler und Studenten leben in den engen Kopfsteinpflastergassen rundherum, Aussteiger, säkulare, junge Demokraten, die während der Gezi-Proteste im Jahr 2013 gegen Recep Tayyip Erdogan auf die Straße gingen und von einer anderen Türkei träumten.
„Ausgeträumt!“ Osman Koc klingt ernüchtert, zündet sich eine selbst gedrehte Zigarette an, pustet den Rauch über Kabel und Luftballons, Computergehäuse, Ölfarben und Fantasiespielzeuge. Das kreative Chaos erinnert an Daniel Düsentrieb. Osman lacht. „Meine Arbeit bewegt sich in einem Dreieck aus Kunst, Technik und Design“, erklärt er. „Manchmal gestalte ich das Aussehen eines Roboters, mal entwickele ich sinnlosgeniale Spielzeuge. Nennen Sie mich einen Kreativtechniker.“ Osmans Mischung funktioniert. In seinem Atelier entstanden schon Projekte für Unicef und Kentucky Fried Chicken. Zuletzt schuf er mit einem Team eine Handprothese im Disney-Design für ein siebenjähriges Mädchen.
Die Klugen verlassen ihr Land
Osman Koc und seine Freunde gehören zu einer kleinen, aber erfolgreichen Gruppe von gut ausgebildeten Türken, die in den vergangenen Jahren die Universitäten des Landes verlassen haben. Sie sprechen fließend mehrere Fremdsprachen, sind technik- und internetaffin. Dass sie an der sogenannten Schnittstelle zwischen Ost und West aufgewachsen sind, ist ihr Markenzeichen. Zumal in Istanbul, wo vor Kurzem noch Kreativität und Innovationslust pulsierten. Von hier aus sollten ihre Internet-Start-up-Firmen, ihre Musiklabels und Erfindungen die Welt erobern. „Made in Istanbul“ schrieben sie voller Stolz auf ihre Produkte und Websites.
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Osman Koc: „In drei Wochen sitze ich im Flieger nach Amerika“
© Quelle: sammann
Doch die wachsende Krisenstimmung in der Türkei sorgt dafür, dass aus dem Stolz immer öfter Verdrossenheit wird. Und Angst. Angst vor der wachsenden Islamisierung der Gesellschaft, vor immer weiteren Terroranschlägen, vor Repressalien gegen Regimekritiker. Auf Demonstrationen traut sich kaum noch jemand in Istanbul. Nicht wenigen aber ist auch einfach die Energie ausgegangen. „Diese ständige Negativstimmung macht einen kaputt“, sagt Osman.
Auf die Schreibtischunterlage vor sich kritzelt er die Namen von Freunden, die in den vergangenen Monaten das Land verlassen haben. Als alles vollgeschrieben ist, hört er auf, zeigt auf seine eigenen Umzugskartons in der Ecke. „Seit Jahren erlebt die Türkei eine Katastrophe nach der anderen. Noch bevor man sich vom letzten Schock erholt hat, kommt schon der nächste. Ich will das nicht mehr.“
„Das ist nicht mehr das Istanbul, das wir kennen“
Offizielle Statistiken zum türkischen Braindrain dieser Tage, dem Verlust vor allem der akademischen Elite, gibt es nicht. Doch ein Blick in die sozialen Netzwerke genügt, um zu sehen, wie bestimmend das Thema ist. In Foren tauschen sich Nutzer darüber aus, in welchen Ländern es Aussichten auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen gibt; Agenturen, die sich auf die Jobsuche im Ausland spezialisiert haben, florieren.
„Schon seit etwa zwei Jahren bemerken wir einen deutlichen Zuwachs. Seit dem Putschversuch im Sommer 2016 aber explodiert das Geschäft“, sagt Ebru Soytürk, die bei Bewerbung und Papierbeschaffung in Australien hilft. Viele ihrer Kunden, sagt sie, seien junge Eltern – meist sehr gut ausgebildet und mit guten Gehältern.
Einer von ihnen ist Bulut Kara, Vertriebsmanager bei einem Mobilfunkunternehmen in Istanbul. „Wir gehen nicht, weil wir mehr Geld verdienen wollen“, stellt er klar, „sondern weil unser Sohn in Freiheit aufwachsen soll. Dies ist nicht mehr das Istanbul, das wir kennen.“
Tatsächlich: Die einst für ihre Offenheit bekannte Bosporusmetropole verändert sich. Am meisten bekommen es die Frauen zu spüren. Immer öfter machen Gerüchte von Frauen die Runde, die wegen kurzer Röcke oder enger Jacken angepöbelt werden. Im Sommer ist eine junge Frau aus einem städtischen Bus geworfen worden. Ein anderer Passagier hat sich belästigt gefühlt und die junge Frau tätlich angegriffen – wegen ihrer kurzen Hosen. Bestraft wurde die Frau, nicht der Angreifer. Solche Attacken werden nicht von oben angeordnet, aber sie werden von der Polizei geduldet. In vielen Stadtvierteln Istanbuls machen sich selbst ernannte Sittenwächter breit. Sie halten Frauen an, die kein Kopftuch tragen, und sie bedrohen Jugendliche, die Alkohol trinken. Die Berichte über Restaurants, denen die Alkohollizenz entzogen wurde, mehren sich.
Rettung ins Private
Dazu kommt der fast schon alltägliche Terror. Was einst quirlig und normalerweise chaotisch war, wirkt nach sechs Terroranschlägen in nur zwölf Monaten zunehmend bedrohlich. „Neulich bin ich zwei Stationen zu früh aus der überfüllten Metro ausgestiegen“, erzählt eine junge Frau am Bahnsteig, „weil da dieser komische Typ war, der sich ständig umsah und eine riesige Sporttasche dabeihatte. Man wird ganz paranoid.“ Wer kann, bleibt abends oder am Wochenende immer öfter zu Hause. Wer sich wohl oder übel ins Gedränge stürzen muss, dem ist trotz allgegenwärtiger Polizeipräsenz und Taschenkontrollen das Unbehagen anzusehen.
Zahlreiche Konzerte und Veranstaltungen wurden in den vergangenen Monaten abgesagt. Istanbuls mehr als 100 Shoppingmalls bleiben selbst am Wochenende weitgehend leer. TV-Serien und Gewinnshows brechen dagegen nach jedem weiteren Anschlag Quotenrekorde. „Wir alle ziehen uns immer mehr ins Private zurück“, bemerkt die Istanbuler Schriftstellerin Esmahan Aykol. „Die Angst vor dem Terror, aber auch die Polarisierung der Gesellschaft in Erdogan-Anhänger und -Gegner sorgen dafür, dass man sich abkapselt.“
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Krimiautorin Esmahan Aykol zögert noch, den Schritt ins Ausland zu wagen.
© Quelle: imago stock&peopleimago stock&people
Auch Aykol, deren Kriminalromane allesamt am Bosporus spielen, denkt inzwischen darüber nach, ihre Heimat zu verlassen. Von ihrer Altbauwohnung direkt am historischen Galataturm im europäischen Istanbul kann die 46-Jährige den Wandel in ihrer Stadt tagtäglich beobachten. Hier, wo sich früher auch im Winter die Touristen drängelten, herrscht heute eine bedrückende Ruhe. Ein paar arabische Touristen bummeln noch vorbei. Ansonsten bleiben Souvenirshop- und Restaurantbesitzer unter sich. Noch schlimmer ist die Lage auf der anderen Seite des Goldenen Horns, im historischen Stadtviertel Sultanahmet.
Dutzende Hotels mussten hier bereits schließen. Im 500 Jahre alten Gassengewirr des Großen Basars ist den einst immer gut gelaunten Händlern das Lachen vergangen. „Früher, als die Geschäfte hier noch gut liefen, habe ich jedem Verkäufer am Tag fünf bis zehn Gläser Tee gebracht“, sagt Cihan, seit 14 Jahren Teeverkäufer im Basar. „Jetzt verdienen die Leute hier nicht mal mehr dafür genug. Sie halten sich den ganzen Tag an einem Gläschen fest.“
Touristenzahlen gehen um 80 Prozent zurück
Cihan greift nach seinem voll beladenen Silbertablett, macht sich auf den Weg durch das Labyrinth des Basars. Der Duft von frischem Cay, dem türkischen Schwarztee, mischt sich mit dem von zu Pyramiden aufgetürmten Gewürzen, Pistaziensüßigkeiten und Zigarettenrauch. Rechts haben die Lederhändler ihr Revier, bieten Jacken und Mäntel, Taschen, Gürtel und Portemonnaies an. Weiter links baumeln handgewebte Teppiche aus Anatolien von der Decke. Juwelier Sami mit Gelfrisur und schwarzen Lackschuhen fährt über den ohnehin längst blitzeblanken Goldschmuck in seiner Vitrine. „Wir langweilen uns“, sagt er. „Um 80 Prozent sind die Touristenzahlen hier zurückgegangen. Jeden Tag schließt ein weiterer Laden.“
Ein Mann, der vor einem Geldwechselbüro steht, nickt zustimmend. „Gucken Sie auf die Tafel da. Von Tag zu Tag verfällt die türkische Lira mehr. Der anhaltende Ausnahmezustand, die ständigen Anti-Terror-Einsätze – das verängstigt natürlich auch ausländische Investoren, die wollen nur noch weg hier. Und schuld an alldem ist …“ Der Mann verstummt plötzlich. Er will den Namen von Staatspräsident Erdogan nicht sagen. Auch seinen eigenen Namen will er nicht nennen, genauso wenig wie seine Kollegen ringsherum.
Vielleicht ist das die größte Veränderung in Istanbul dieser Tage: egal ob im Teehaus, auf der Straße oder eben im Basar. Es ist merkwürdig still geworden am Bosporus. Wer nicht aufseiten der Regierung steht, der schimpft nicht mehr, wie einst in den Tagen des Gezi-Aufstands. Er schweigt – oder er geht. Und er nimmt sein Können, seine Bildung und seine Kreativität mit.
Von Luise Sammann