„War keine Enttäuschung“: Die Pressestimmen zum Biden-Putin-Treffen
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Treffen in Genf: Kremlchef Wladimir Putin (l.) gibt US-Präsident Joe Biden die Hand.
© Quelle: imago images/ITAR-TASS
Berlin. Bei hochsommerlichem Wetter sind US-Präsident Joe Biden und Kremlchef Wladimir Putin am Mittwoch in der Villa La Grange aus dem 18. Jahrhundert mit Blick auf den Genfersee in der Schweiz zusammengekommen. Das Treffen dauerte mehrere Stunden und hatte eine ganze Palette an Themen: von Fragen der atomaren Rüstungskontrolle über Menschenrechte bis hin zu Regionalkonflikten in Afghanistan, Syrien und Libyen. Das weltweite Medienecho ist groß.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meint: „(…) Unter Wladimir Putin hat Russland einen Weg eingeschlagen, der es immer weiter weg von der demokratischen Staatenwelt führt. (…) Doch auch mit diesem Russland muss man einen Modus vivendi finden. Biden ist schon der fünfte amerikanische Präsident, der es mit Putin zu tun hat. Er hatte das Treffen vorgeschlagen. Dass Putin darin einwilligte, zeigt, dass auch der an der völligen Vereisung der Beziehungen kein Interesse hat, zumal der Westen zu größerer Geschlossenheit findet und durchaus über Mittel verfügt, um auf russische Aggression angemessen zu reagieren. Biden stellt sich der Auseinandersetzung mit den autoritären Regimen – und bietet einen Dialog an. Das eine ist notwendig, das andere vernünftig.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ findet: „Joe Biden hat die Vereinigten Staaten bei seinem Treffen mit Wladimir Putin in Genf nicht blamiert. Er hat seine Geheimdienste nicht desavouiert. Er hat Amerikas Verbündete nicht hängen lassen. Wenn man sich daran erinnert, dass Donald Trump all das getan hat, als er seinen russischen Kollegen vor drei Jahren in Helsinki traf, dann lautet ein erstes Fazit nach Genf: Die USA haben wieder einen Präsidenten, der sich nicht von Putin über den Tisch ziehen lässt. Ein zweites Fazit lautet: Putin hat das verstanden.
Das bedeutet nicht zwingend, dass seine Innen- und Außenpolitik künftig weniger aggressiv und destruktiv werden wird. Aber wenigstens verändert sich für ihn die Kalkulation des Preises, den er für Aggression und Destruktion bezahlen muss. Bei Trump lag dieser Preis bei null. Bei Biden wird er höher liegen. Ob er dann hoch genug liegt, um Putin zu beeindrucken, wird man sehen.
Es war gut, dass Biden und Putin sich getroffen haben. Beide Seiten wissen jetzt besser, was sie trennt und woran sie sind. Und offensichtlich reicht die Gegnerschaft nicht so tief, dass die USA und Russland zum Beispiel bei der nuklearen Abrüstung nicht mehr zusammenarbeiten wollen. Das ist ein großer Erfolg. Ein drittes Fazit lautet daher: Das Treffen in Genf hat die Welt sicherer gemacht.“
„Ein Gipfel unter Gleichen aber, das war der Gipfel von Genf sicher nicht“
Die „Nürnberger Nachrichten“ schreiben: „Für Putin war der Gipfel von Genf insofern ein Erfolg, als er ihm ermöglichte, die Illusion aufrecht zu erhalten, er und sein Land seien nach wie vor auf Augenhöhe, seien nach wie vor der große Gegenspieler des liberalen Westens. Die für Moskau unangenehme Wahrheit ist: Russland ist, auch wegen seiner darbenden Wirtschaft, schon lange nicht mehr auf Augenhöhe mit Amerika. Joe Biden hat dennoch gut daran getan, Putin mit dem Gipfel den Respekt zu erweisen, nach dem der so giert. Ein Gipfel unter Gleichen aber, das war der Gipfel von Genf sicher nicht.“
Die „Badische Neueste Nachrichten“ kommentieren: „Der große Durchbruch, der unter Girlanden zelebrierte Neustart nach den heftigen Irritationen der jüngeren Vergangenheit, nichts davon stand in Genf auf dem Programm. Joe Biden und Wladimir Putin wollten ausloten, wo man kooperieren kann und wo die Interessensunterschiede so markant sind, dass alles andere als eine frostige, gleichwohl geregelte Beziehung auf absehbare Zeit Illusion bleiben muss. (...)
Das Ziel war, Brandmauern einzuziehen, damit ein Feuer, wenn es denn ausbricht, nicht zu einem Flächenbrand führt. (...) Wenn Biden ausdrücklich hinzufügt, man werde in drei bis sechs Monaten sehen, ob der Dialog zwischen den Fachleuten funktioniere, steht dies wohl exemplarisch für den sehr, sehr vorsichtigen Optimismus, mit dem er die Dinge sieht. Es gehe nicht darum, ob er Putin vertraue, betont er. Es gehe darum, dass jede Seite im wohlverstandenen Eigeninteresse handle. Nüchterner – und treffender – kann man ihn kaum analysieren, den Zustand russisch-amerikanischer Beziehungen.“
Die Koblenzer „Rhein-Zeitung“ betont: „Sollten Biden und Putin mit ihrem Treffen in Genf eine neue Arbeitsebene, eventuell sogar Ansätze für konkrete Zusammenarbeit gefunden haben, hätte sich dieser Gipfel schon gelohnt. Beide Präsidenten hatten schon im Januar verabredet, das New-Start-Abkommen zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen bis 2026 zu verlängern. Danach aber soll es durch einen neuen Vertrag ersetzt werden. Der Zustand der Beziehung zwischen den USA und Russland ist auch nach diesem bilateralen Gipfel nicht gut. Aber es gibt einen Anknüpfungspunkt, dass sie wieder besser wird. Das ist eine Chance, selbst wenn man dazu manchmal rote Linien braucht.“
„Russland ist offenbar nicht daran interessiert, dass die Beziehung zu den USA reibungslos verläuft“
Die „Schwäbische Zeitung“ aus Ravensburg findet: „Die USA kehren mit Präsident Joe Biden wieder zur Diplomatie zurück. Verbündete werden wie Verbündete behandelt und müssen nicht mehr befürchten, gegen irgendwelche Autokraten oder gar stalinistische Diktatoren als Miesmacher ausgespielt zu werden. Der Höhepunkt seiner Reise war die Zusammenkunft mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Wer nun aber glaubt, die USA hätten eine Reise im Stile des Hollywood-Erfolgs „Zurück in die Zukunft“ angetreten und die Politik etwa der 1990er Jahre beschworen, der dürfte sich täuschen.
Biden wird Nato-Partner und EU in die Pflicht nehmen. Ein Wegducken wird schwieriger. Putin dürfte wiederum verstanden haben, dass für den Demokraten – anders als für Trump – die westlichen Bündnissysteme auch etwas mit Werten zu tun haben. Wenn es um Einfluss und Macht geht, dann spielen moderne Streitkräfte eine Rolle. Und die sind teuer. Dass Europa mehr für seine Sicherheit tun muss, ist eine Forderung aus Washington, weiterhin ganz oben auf den Konferenztischen drapiert werden wird.“
Die „Neue Zürcher Zeitung“ kommentiert: „Gemessen an den niedrigen Erwartungen war das Treffen keine Enttäuschung. Putin ließ im Anschluss durchblicken, dass ihn die amerikanischen Vorwürfe über russisches Fehlverhalten – von russischen Hackerangriffen in den USA bis zur Inhaftierung des Oppositionsführers Nawalny – in keiner Weise beeindruckt hätten. Biden wiederholte diese Vorwürfe und machte klar, dass er Putin die Konsequenzen aufgezeigt habe, sollte sich die Lage nicht bessern. Doch es gab keine konkreten Vereinbarungen, die auf eine Verhaltensänderung hinweisen.
Dennoch war es richtig, dass sich die beiden Männer in Genf getroffen haben. Präsident Biden handelte geschickt, als er Putin diese Begegnung anbot (...). Doch die USA dürfen sich nicht einbilden, dass sie den Störfaktor Putin unter Kontrolle gebracht haben. Der Autokrat weiß, dass die Unzufriedenheit im eigenen Lande wächst und dass Russlands geopolitisches Gewicht schwindet. Er wird Russlands Präsenz auf der Weltbühne deshalb auch in Zukunft mit Nadelstichen, Störaktionen und Machtbeweisen in Erinnerung rufen.“
Der Zürcher „Tages-Anzeiger“ schreibt: „Zumindest haben sich die beiden Präsidenten auf weitere Gespräche zur Cyber-Sicherheit geeinigt. Außerdem wäre es im ureigenen Interesse beider Seiten, die digitalen Finger von den Kommando- und Kontrollsystemen für die Nuklearwaffen zu lassen. Das wäre ein Schritt hin zu jener ‚stabilen und berechenbaren‘ Beziehung zu Russland, die Biden anstrebt. (...) Putin ließ sich ohnehin kaum beeindrucken, auch Bidens Forderungen, sich in der Ukraine zurückzuhalten oder den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny freizulassen, dürften ihre Wirkung verfehlt haben.
‚Stabile und berechenbare‘ Beziehungen zu den USA und dem Westen sind nicht unbedingt im Interesse Russlands, das politisch, wirtschaftlich und auch militärisch schwächer ist als die USA. (...) Russland ist offenbar nicht daran interessiert, dass die Beziehung zu den USA reibungslos verläuft; sie bleibt von Reibungen geprägt. Der Gipfel in Genf hat daran nicht viel geändert. Zumindest aber spricht man nun über diesen neuen, unsichtbaren Krieg.“
„Die USA sehen die EU nicht mehr als Rivalen“
Die portugiesische Zeitung „Público“ findet: „Biden ist die beste Nachricht in der internationalen Politik dieser Zeit. Ihm fehlt das Charisma von John Fitzgerald Kennedy, der Gleichmut Bill Clintons, die selbstbewusste Pose Ronald Reagans oder die Verführungskraft Barack Obamas. Aber in der scheinbaren Zerbrechlichkeit seiner Art verbirgt sich eine sichere Vorstellung von Amerika und ein konsequenter Führungswille, der in den turbulenten und unsicheren Zeiten, in denen die Welt lebt, wie Balsam erscheint.
Wie er sich auf den Gipfeln der G7, der NATO, mit der EU und mit Russland verhielt, ist ein hervorragendes Signal für Europa und die Welt: Die USA sehen die EU nicht mehr als Rivalen und die NATO als ein von Misstrauen und Konkurrenz zum Scheitern verurteiltes Bündnis an. Zugleich stellen sich die USA wieder als Bollwerk gegen autoritäre Strömungen dar, die unter dem Einfluss Chinas und Russlands auf der ganzen Welt zunehmen.“
„Der Standard“ in Wien meint: „Amerika ist nicht mehr nur ‚first‘ wie unter Trump. Es ist laut Biden ‚back‘ bei den europäischen Alliierten. Gemeinsam mit ihnen wollen die USA als starke, aber kooperative Führungsmacht vorgehen, um in einer neuen Weltordnung China, dem zweiten großen Rivalen neben Russland, entgegentreten zu können. (...) Jetzt wird es darauf ankommen, ob die Europäer die ‚Chance Biden‘ praktisch nutzen können.
Dafür müssten sie sich zunächst selbst einen Ruck geben: die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik revolutionieren, viel mehr in eine EU-Armee investieren. Und auch neue Handelsabkommen mit den USA vereinbaren. Vier Jahre hat die EU nun Zeit für ihre eigene weltpolitische Wende. Dann könnte wieder ein anderer, weniger netter US-Präsident kommen.“
RND/dpa/tdi