Warum wir ein Gesellschaftsjahr brauchen

Ein klarer Wunsch nach mehr Zusammenhalt verbindet die modernen Deutschen, egal woher sie soziologisch kommen oder wo sie philosophisch stehen.

Ein klarer Wunsch nach mehr Zusammenhalt verbindet die modernen Deutschen, egal woher sie soziologisch kommen oder wo sie philosophisch stehen.

Hannover. Die Debatte begann mit einem Missverständnis. Zwei, drei Tage lang sah es so aus, als wolle Deutschland zurück zur Wehrpflicht. Am ersten Augustwochenende liefen im Fernsehen verwirrende Nachrichten über eine neue deutsche Dienstpflichtdebatte, illustriert mit bekannten Bildmotiven: junge Männer mit Gewehr in der Hand und Gras auf dem Stahlhelm.

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Am nachfolgenden Montag hatte die Riege der Regierungssprecher alle Mühe, diese erste Assoziation – Dienstpflicht gleich Wehrpflicht – wieder aufzulösen. “Der Widerruf der Aussetzung der Wehrpflicht“, hob Ulrike Demmer, stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung, etwas bürokratisch an, “steht jetzt nicht zur Debatte.“ Dann fügte sie einen entscheidenden Satz hinzu: Es handele sich um eine parteipolitische Diskussion, “die wir hier von der Regierungsbank aus nicht bewerten“.

Es ist in der Tat nicht die Bundesregierung, die hier etwas angestoßen hat. Aber gerade darin liegt das Gute. Deutschland erlebt – endlich mal wieder – eine politische Willensbildung, wie die Väter und Mütter des Grundgesetzes sie immer wollten: von unten nach oben.

Verblüffend positive Resonanz quer durch die Parteien

Begonnen hatte alles mit der bundesweiten “Zuhörtour“ von CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer in unzähligen kleinen Veranstaltungen. Den Wunsch nach einem Pflichtjahr für alle, so diffus dieses Projekt von seinen inhaltlichen und juristischen Umrissen her auch bleiben mochte, spürte die Politikerin immer wieder – egal ob sie mit jungen Leuten sprach oder mit alten, mit dem Arbeitnehmerflügel oder dem Wirtschaftsrat.

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Dieser ersten Überraschung folgten drei weitere.

Eine deutliche Mehrheit nicht nur in Kramp-Karrenbauers Union, sondern auch unter allen Bundesbürgern tendiert mit erstaunlicher Klarheit in Richtung Pflicht, laut Politbarometer mit 68 zu 30 Prozent.

Die Anhänger aller fünf im Bundestag vertretenen Parteien sind mehrheitlich für eine Dienstpflicht. Das gilt sogar für die FDP, deren Vorsitzender Christian Lindner die Dienstpflicht anfangs als indiskutablen “Eingriff in die Freiheit“ abtat und als “Sommerloch-Idee“.

Die Resonanz in den Medien ist verblüffend positiv, quer durch die Lager. In der “Welt“ jubelt der konservative Kommentator Robin Alexander, die Dienstpflicht-Debatte sei “überhaupt der erste politische Akzent der CDU seit Jahren“. Im “Spiegel“ verkündet Linkskolumnist Jakob Augstein: “Eine Dienstpflicht muss gar keinen militärischen Sinn ergeben, ein gesellschaftlicher genügt vollkommen.“

Wunsch nach mehr Zusammenhalt

Deutschland, einig Dienstpflichtland? Tatsächlich lässt sich, wo Lindner nur ein Sommerloch vermutet, etwas Substanzielles und politisch Bedeutsames ertasten. Ein klarer Wunsch nach mehr Zusammenhalt verbindet die modernen Deutschen, egal woher sie soziologisch kommen oder wo sie philosophisch stehen.

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Offenbar gehen vielen die immer neuen internetgetriebenen Individualisierungsrunden mittlerweile zu weit. In diesem Punkt treffen sich die knorrigen Alten, die selbstverständlich “beim Bund“ waren oder bei der NVA (“mir hat es nicht geschadet“), mit den nachdenklichen Jungen – von denen einige inzwischen auf ganz eigene Art eine Dienstpflicht zu verklären beginnen, als gehe es um einen neugefundenen Sinn des Lebens.

Wer die Idee einer Dienstpflicht in der miefig rechten Ecke liegen lasse, tue ihr Unrecht, schreibt Gereon Asmuth in der linksalternativen “taz“. Eine Dienstpflicht sei auch eine Chance für junge Leute: zum “Ausbruch aus einem nur auf Verwertung ausgerichteten Bildungsweg“. Doch was, wenn junge Leute am Ende statt des feierlich beschworenen Ausbruchs doch nur wieder eine Verwertung erleben, als billige Hilfskraft kollabierender Sozialsysteme?

Dienstpflicht Umfrage

Dienstpflicht Umfrage

Die Politik muss aufpassen. Wenn junge Leute per Dienstverpflichtung etwa in Pflegeheime und in Krankenhäuser entsandt werden, drohen Konflikte. Den regulär Beschäftigten könnten sie vorkommen wie Lohndrücker. Und den Arbeitgebern könnten sie als willkommene Ausrede dafür dienen, dass das professionelle Personal nicht im erforderlichen Maß aufgestockt wird.

Von gut gemeint bis gut ist es oft ein langer Weg. Nicht mal im Ansatz ist heute erkennbar, wo und wie die bis zu 700 000 Stellen eingerichtet werden können, die nötig wären, um alle dienstverpflichteten jungen Frauen und Männer zu einem wie auch immer gearteten Dienst antreten zu lassen. Eine Politik, die seriös bleiben will, muss sich auf Stufenpläne einlassen.

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Ein erster Schritt kann darin liegen, die bisherigen Freiwilligendienste auszuweiten und aufzuwerten, als Varianten eines neuen “Gesellschaftsjahrs“, mit einheitlichen Bedingungen und Zertifizierungen. Eine Erhöhung des Taschengelds, das der Träger zahlt – derzeit maximal 390 Euro – würde 18-Jährige aufhorchen lassen. Bei Einsätzen im Ausland wären Zuschüsse für Reisen und Sprachkurse willkommen. Auch eine bessere Anerkennung als Wartezeit im Studium oder als Praktikum für den Beruf wäre wichtig.

Die Welt ein bisschen besser machen

Formate für neue freiwillige Dienste lassen sich rasch entwerfen. Nicht zuletzt muss es um neue soziale Hilfsnetze abseits klassischer Einrichtungen gehen, die abgehängten Deutschen in prekären Situationen unter die Arme greifen, sei es in den Städten, sei es auf dem Land. Hier winkt als Nebeneffekt sogar eine Abschwächung politischer Radikalisierungstendenzen.

Das “Gesellschaftsjahr“ sollte aber nicht national verengt werden. Zu denken wäre auch an Umwelt- und Dritte-Welt-Projekte sowie an Integrationsprogramme für Flüchtlinge. Ein massenhafter Einsatz junger Helfer auf all diesen Feldern jedenfalls könnte die Welt allen Ernstes ein bisschen besser machen.

Ideal wäre es, wenn all diese Dienste sich freiwillig in Gang setzen ließen. Mit einem gesetzlichen Zwang würde sich über jede noch so gut gemeinte Aktivität etwas Düsteres legen. Freiwilligkeit dagegen lässt jeden Dienst an der Gemeinschaft doppelt strahlen: Sie macht ihn rechtlich unangreifbar, aber vor allem auch ethisch erhaben.

Arbeitgeber sollten Dienst an der Gesellschaft als positiv bewerten

Ob die Politik die zur Einführung einer Dienstplicht nötigen Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat wirklich hinbekommt, ist ungewiss. Es drohen unschöne Szenen, etwa wenn am Ende das ganze Projekt rechnerisch an der Zustimmung der AfD hängt.

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Der eleganteste Weg läge in einem “Gesellschaftsjahr“, das nach und nach auf indirekte Art zur Pflicht wird. Dazu würde es genügen, wenn private und öffentliche Arbeitgeber sich darauf verständigten, zwölf Monate im Dienste der Gemeinschaft als positiv zu bewerten, nicht im Sinne einer absoluten Hürde, aber eben doch als Teil des charakterlichen Profils von Bewerbern. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Natürlich wird man jene jungen Leute verständnisvoll durchwinken, die aus armen Familien kommen und dringend Geld verdienen wollen. Auch wird man jenen nichts zusätzlich abverlangen, die bereits jemanden pflegen oder gar ihrerseits Hilfe brauchen.

Gutes tun statt eitler Selbstverwirklichung

Anstoßen sollte man aber ein Umdenken bei all jenen, denen vor lauter Wohlstand schon langweilig ist. Da gibt es viele, denen es gut tun würde, endlich mal Gutes für andere zu tun, statt nur eitle Selbstverwirklichung zu kultivieren.

“Unser Jüngster macht ja jetzt ’work and travel’ und arbeitet bei einem australischen Winzer“, erzählen Mütter und Väter aus besseren Kreisen, wenn sie auf der Party bei klirrenden Drinks zusammenstehen. “Ach, wie schön“, lautet die übliche Reaktion. Genau hier muss das neue Denken ansetzen.

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Angesichts der neuen deutschen Dienstpflichtdebatte müsste die höfliche Frage erlaubt sein: Warum hat er sich eigentlich nicht für etwas Soziales engagiert, warum tut er nicht etwas für Hilfsbedürftige?

Von Matthias Koch

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