Früherer Kinderstar stirbt mit 34 Jahren

Aaron Carter: Hilfeschrei ohne Antwort

Aaron Carter, wie man ihn kannte. Ende der Neunzigerjahre wurde der Bruder von Backstreet-Boy Nick Carter zum Kinderstar.

Aaron Carter, wie man ihn kannte. Ende der Neunzigerjahre wurde der Bruder von Backstreet-Boy Nick Carter zum Kinderstar.

Hannover. Ich habe Aaron Carter vor zwei Tagen noch gesehen. Ganz durch Zufall, beim Durchscrollen meiner Tiktok-Timeline. Aaron saß in einem Livestream, einem ohnehin sehr ominösen Ort auf dieser Plattform, an dem sich allerhand skurrile Gestalten tummeln: ASMR-Girls, Esoteriker, Webradio-DJs. An diesem Abend war die kuriose Gestalt ein früherer Star meiner Kindheit: Aaron Carter.

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Abgemagert und mit brüchiger Stimme, das Gesicht bleich und stark eingefallen, sprach der Sänger über irgendwas, das ich beim besten Willen nicht verstehen oder deuten konnte. Ich habe es als eine Art Wutrede aufgefasst, als ein Statement gegen einen Internethater, dem Carter wohl die Meinung sagen wollte.

Der Livestream selbst war kaum zu ertragen, ich habe ihn nach wenigen Minuten ausgeschaltet. Stattdessen habe ich mich an diesem Abend in das musikalische Werk des früheren Kinderstars eingegraben – und in seine Biografie. Mich hat dieser offensichtliche Absturz interessiert, ich las von seinen Skandalen, Drogenmissbrauch, Familienstreitigkeiten.

Was ich an diesem Abend noch nicht ahnen konnte: Zwei Tage nach dieser ungewollten Begegnung auf Tiktok ist Aaron Carter tot.

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Ein Neunjähriger als Pop-Produkt

Carter war nie ein Idol meiner Kindheit, das wäre zu viel gesagt. Die Backstreet Boys und Blümchen waren immer größer, bedeutsamer – und doch wurde der Sänger in gewisser Weise von mir und meinen Mitschülerinnen und Mitschülern bewundert.

Carter war eben kein älterer Backstreet Boy – er war ein Star, obwohl er gerade einmal so alt war wie wir. Ein Star, der auf Bühnen stand, Interviews gab und um die Welt tourte, während wir in unserem Kuhkaff saßen und die Hausaufgaben vergeigten. Ungerecht irgendwie.

Rückblickend ist diese Faszination kaum zu erklären. Der erste Song Carters, eine Coverversion von The Jets „Crush on You“, ist ein furchtbares Stück Musikgeschichte. Zu Plastikbeats und elektronisch erzeugten Gitarrenriffs tönt schief die Stimme eines Neunjährigen, der aber die meiste Zeit von einem viel zu lauten Backgroundchor übertönt wird.

Backstreet Boys gedenken Aaron Carter bei Konzert in London

Wie das Branchenblatt „Billboard“ und das Musikmagazin „NME“ berichteten, widmete die Band dem Ex-Kinderstar einen Song.

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Kaum erträgliches Marketing

Das Musikvideo zu „Crush on You“, erschienen im Sommer 1997, ist der heteronormativste Neunzigerquatsch, der wohl jemals produziert wurde. Aaron sitzt bedrückt auf einer Parkbank, weil er in ein „girl“ verliebt ist, aber keine Chance sieht, weil sein Crush nur auf Basketballspieler und Muskelmänner steht. Glücklicherweise kommt Bruder und Backstreet-Boy Nick Carter vorbei und rät ihm, er müsse einfach nur „er selbst“ sein, also: singen.

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Auch die folgenden Aaron-Carter-Hits handeln betont von „girls“, weil man schließlich genau diese zum Kauf von CDs und Merchandiseartikel animieren wollte. „Crush on You“, „Crazy Little Party Girl“ und „I‘m Gonna Miss You Forever“ schaffen es allesamt in die Top 20 der deutschen Charts.

Rückblickend ist diese Musik und dieses durchschaubare Marketing kaum zu ertragen. Aaron Carter war ein unschuldiger Neunjähriger, gedrängt in die Rolle eines heterosexuellen Pop-Produkts, mit dem sich viel Geld machen ließ. In Wirklichkeit haderte der Sänger mit seiner sexuellen Identität: 2017, also 20 Jahre nach seinem ersten großen Hit, outete sich Aaron Carter als bisexuell.

Aaron auf dem Abstellgleis

Das Produkt, das Carter verkörperte, war nach ein paar Monaten aber sowieso wieder out. Die Neunziger waren schließlich auch die Zeit der One-Hit-Wonder, sie kamen und gingen – so auch Aaron.

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„I Want Candy“ war der letzte Carter-Song, der es 1998 in die Charts schaffte, danach hatte der Sänger, mittlerweile Teenager, nur noch ein paar Achtungserfolge in den USA. An die Karriere seines Bruders Nick kam Carter nie heran.

Schrieb zunächst die „Bravo“ beinahe wöchentlich über Aaron Carter, so fand sein Leben später kaum noch Beachtung in den Medien. Nur einige Klatschmagazine berichteten regelmäßig über den Sänger – meistens war der Grund einer seiner zahlreichen Skandale.

Zahlreiche Skandale

Rückblick: Nach seiner Musikkarriere beginnt Carter mehrere Liebesbeziehungen und Affären mit großen Stars, darunter etwa Hillary Duff, Playboy-Model Kari Ann Peniche oder Lindsay Lohan – ihres Zeichens ebenfalls Beispiel für einen gescheiterten Kinderstar. Viele von ihnen enden im Desaster. 2019 etwa erwirkt Carter eine einstweilige Verfügung gegen seine Ex-Freundin, das russische Model Lina Valentina. Sie soll Berichten zufolge damit gedroht haben, den Sänger zu erstechen.

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Immer wieder hat der Sänger mit finanziellen Problemen zu kämpfen. 2013 reicht Carter einen Insolvenzantrag ein, um Schulden in Höhe von mehr als 3,5 Millionen US-Dollar abzubauen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Steuerschulden, die sich in der Zeit seiner Musikkarriere angehäuft hatten.

Mehrfach bekommt Carter Probleme mit der Polizei. 2017 wird der er in Georgia wegen des Verdachts des Fahrens unter dem Einfluss von Marihuana festgenommen. Er wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Kinderstar mit Drogenproblemen

Auch die Gesundheit des Musikers ist immer wieder Thema. Carter spricht offen über seine Drogen- und Medikamentenabhängigkeit, 2017 tritt er in der TV-Show „The Doctors“ auf, lässt sich hier umfassend untersuchen. Carter ist untergewichtig, wird positiv auf „eine Mischung aus Benzodiazepinen mit Opiaten“ getestet, eine potenziell gefährliche Kombination von verschreibungspflichtigen Medikamenten.

ARCHIV - 08.12.2019, Großbritannien, London: US-Sängerin Taylor Swift tritt beim Capital's Jingle Bell Ball in der O2 Arena auf. Mit ihrem neuen Album «Midnights» steht US-Sängerin Taylor Swift erstmals auf Platz eins der Offiziellen Deutschen Charts.

Die Sängerin Taylor Swift ist auch mit ihrem neuen Album sehr erfolgreich.
 (zu dpa: «Zehnmal Taylor Swift») Foto: Isabel Infantes/PA Wire/dpa - Honorarfrei nur für Bezieher des Dienstes dpa-Nachrichten für Kinder +++ dpa-Nachrichten für Kinder +++

Mit zehn Songs in den US‑Top‑10: das Phänomen Taylor Swift

Taylor Swift steht mit zehn Songs gleichzeitig in den Top 10 der US-Charts. Rekorde wie das Album „Midnights“ hatte zuletzt nur eine Künstlerin geknackt: Taylor Swift selbst. Wie ist dieser Erfolg zu erklären?

Zwei Jahre später nimmt er erneut an einer Folge der Show „The Doctors“ teil. Hier erklärt er, bei ihm sei sowohl Schizophrenie als auch eine bipolare Störung diagnostiziert worden.

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2021 wird der Sänger Vater. „Prince ist kostbar, ich liebe dich, Sohn“, schreibt Carter auf Instagram. Nur eine Woche später trennt er sich von der Mutter, seiner Verlobten Melanie Martin. Es ist nicht das erste Mal.

Nacktvideos auf Porno-Plattformen

Für große Schlagzeilen sorgt auch die Familienfehde der Familie Carter. 2019 erhebt der Sänger Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen seine Schwester Leslie, die schon 2012 an einer Überdosis Drogen gestorben war. Auch seinem Bruder Nick wirft Carter Missbrauch vor. Dessen Anwaltsteam weist die Anschuldigungen zurück. Nick und Aarons Zwillingsschwester Angel erwirken ein Kontaktverbot gegen den Sänger. Er soll damit gedroht haben, Nicks damals schwangere Frau Lauren Carter zu töten. Der Familienstreit wird zur Social-Media-Schlammschlacht.

Etwa zur selben Zeit versucht Carter augenscheinlich, mit dubiosen Mitteln an Geld zu kommen. 2020 twittert der deutsche Künstler Jonas Jödicke, Carter nutze seine urheberrechtlich geschützten Kunstwerke, um Waren zu bewerben. Erst später entschließt sich Carter, den Künstler dafür zu entlohnen.

Die Brüder Aaron und Nick Carter.

Die Brüder Aaron und Nick Carter.

Auch als Erotikdarsteller versucht sich der Sänger. Auf der Pornoplattform Onlyfans verkauft er Nacktbilder und Sexvideos im Abomodell, in Livestreams auf ominösen Seiten masturbiert er vor der Kamera. Für ein Nacktfoto des Sängers sollen Fans 50 bis 100 Dollar zahlen.

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Gescheitertes Comeback

Auf seiner eigenen Website verkauft Carter derweil virtuelle Meet and Greets, für 75 Dollar. Ab 150 Dollar verspricht der Sänger Promoposts auf seinen Socialplattformen für Produkte von Unternehmen. Wer die Influencerbranche kennt, der weiß: Für 150 Dollar stehen die meisten Akteure der Branche morgens nicht mal auf.

Musikalisch ist von dem früheren Kinderstar derweil kaum noch etwas zu hören. 2018 immerhin versucht sich Carter an einem Comeback. Das Album „LØVË“ erscheint bei Sony Music und enthält einige gut produzierte, zeitgenössische Pophits. Die Single „Sooner or Later“, produziert vom preisgekrönten Musiker Michel „Lindgren“ Schulz, wird immerhin fast 100 Millionen Mal auf Spotify gestreamt.

Für eine weiterführende Karriere ist das offenbar nicht genug. Carter versucht sich später als Hobbyproduzent, veröffentlicht mehrere Songs in Eigenregie. Die Stücke sind eine Mischung aus Pop und Hip-Hop, häufig in Kooperation mit unbekannten Rappern, häufig mit flachen Lyrics und teilweise schiefgesungenen Vocals. Auf Tiktok und Instagram veröffentlicht der Sänger Previews und Behind-the-Scenes-Material der Stücke, aber kaum jemand interessiert sich dafür.

Aaron und die Hater

Gleichzeitig macht Carter immer wieder mit bizarren Livestreams auf Tiktok, Facebook oder Instagram auf sich aufmerksam. Mal rasiert er sich vor laufender Kamera die Haare, mal sitzt er augenscheinlich völlig neben der Spur vor der Kamera und spricht unverständliches Zeug. All das wirkt aus heutiger Sicht wie ein Hilfeschrei, der jedoch nie beantwortet wird.

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Die wenigen Menschen, die sich noch für Carters Leben interessieren, sind seine Hater. Sie verirren sich immer wieder in die Kommentarspalten des Musikers, kommentieren abfällig sein Aussehen, beleidigen Carter wegen seiner Gesichtstattoos, seines Drogenkonsums und seiner skandalträchtigen Vergangenheit. Carter lässt das nicht kalt: Er adressiert die anonymen Kommentatoren immer wieder in seinen Livestreams und Internetvideos und legt sich öffentlich mit ihnen an – was weitere bösartige Kommentare nach sich zieht.

Der letzte Livestream des Sängers muss wohl wenige Stunden vor seinem Tod stattgefunden haben. Mehrere Videos auf Tiktok und Youtube sind mit „Aaron Carters letzter Livestream“ betitelt, alle jedoch zeigen ein anderes Video. Immer zu sehen ist jedoch ein augenscheinlich völlig neben sich stehender Aaron Carter, der offensichtlich dringend Hilfe braucht.

Kein Weg zurück

Abgestürzt sind schon viele Kinderstars. Lindsay Lohan, Macaulay Culkin, die Olsen-Zwillinge, Britney Spears. Jedoch taten sie dies, noch bevor es Tiktok- oder Instagram-Livestreams gab. Bei kaum einem anderen Promi war der persönliche Niedergang, die Hilflosigkeit, so hautnah zu beobachten wie bei Aaron Carter.

Und es gibt noch einen Unterschied. Andere Kinderstars schafften irgendwann den Weg zurück ins Leben – Aaron Carter nicht. Am Samstag starb der Sänger im Alter von nur 34 Jahren in seinem Haus in Los Angeles. Die Todesursache ist noch unklar, US-Medien berichten, der Sänger sei leblos in der Badewanne gefunden worden.

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Carters Management erklärte: „Aaron wusste, dass er manchmal nicht die besten Entscheidungen traf, aber er litt unter den Folgen davon.“ Er habe aber immer versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen und Wiedergutmachung zu leisten. „Aaron Carter hat das Leben wirklich geliebt.“

Unklar bleibt, wieviel Aaron Carter denn überhaupt von diesem Leben hatte. Hineingeworfen als Minderjähriger in die Popmaschinerie der Neunzigerjahre, fallen gelassen, als es mit den Verkaufszahlen nicht mehr so lief. Und abgestürzt vor den Augen derjenigen, die ihn einst auf dem Schulhof im Kuhkaff für seinen Erfolg bewundert hatten.

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