Griechenland, Italien, Spanien: Bündnis der EU-Südstaaten will laschere Schuldenregeln
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Mit dem EU-Stabilitätspakt sollen die Haushalte der EU-Staaten im Gleichgewicht gehalten werden, um die Stabilität des Euro zu gewährleisten.
© Quelle: dpa
Er gilt als ein Eckstein der Europäischen Union, der 1997 geschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Er orientiert sich an den fünf Jahre zuvor im Vertrag von Maastricht festgelegten Konvergenzkriterien für den Beitritt zur Währungsunion und bildet den Rahmen für die Koordinierung und Überwachung der nationalen Finanzpolitiken in der EU. Der Pakt setzt den Staaten eine Defizitgrenze von maximal 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Staatsschulden sollen höchstens 60 Prozent vom BIP ausmachen.
Aber die Wirklichkeit sieht in den meisten Ländern ganz anders aus. 2019 verstießen elf der damals 28 EU-Staaten gegen die Schuldenobergrenze. Im Durchschnitt der Euro-Zone lag die Quote bei 85,5 Prozent. Die Pandemie hat die meisten Staaten noch tiefer in die Schulden getrieben.
Aktuell hält nur noch ein einziges EU-Land das Defizit- und das Schuldenkriterium ein, das wohlhabende Luxemburg. Auch das früher als fiskalischer Musterschüler geltende Deutschland gehört mit einer Schuldenquote von 71,4 Prozent und einem Haushaltdefizit von 5 Prozent inzwischen zu den Sündern.
Zwei Lager bilden sich heraus
Die Regeln des Stabilitätspaktes sind zwar für die Dauer der Pandemie aufgehoben, sollen aber 2023 wieder in Kraft treten. Nun beginnt das Tauziehen um die künftige Ausgestaltung des SWP. Zwei Lager bilden sich heraus: Das eine um Nordländer wie die Niederlande, Dänemark, Schweden, Finnland und Lettland. Sie wollen zu den bisher geltenden Regeln zurückkehren und sogar strenge Sanktionen für Verstöße einführen. Die wurden bisher nicht geahndet.
Auf der anderen Seite stehen Länder wie Griechenland, Italien, Frankreich, Zypern, Spanien und Portugal. Sie treten für eine dauerhafte Lockerung ein. Kein Wunder: Dies sind, mit Belgien, die sieben EU-Staaten mit Schuldenquoten von über 100 Prozent des BIP. Einige von ihnen sind durch die Pandemie so tief in den Schuldensumpf gesackt, dass sie die 60-Prozent-Grenze in absehbarer Zukunft nicht erreichen können.
Beispiel Griechenland: Die Schuldenquote erreicht Ende vergangenen Jahres 206 Prozent vom BIP. Nach einer Studie des griechischen Finanzrats würde das Land selbst unter günstigen Voraussetzungen 53 Jahre brauchen, um seine Schuldenquote unter 70 Prozent des BIP zu drücken. Italien würde dafür 45 Jahre benötigen, Portugal 39, Frankreich, Zypern und Spanien 35 Jahre.
„Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die Regeln geändert werden müssen, weil die derzeitigen Vorgaben obsolet sind“, meinte der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis jetzt in einem Interview mit dem „Handelsblatt“. Er plädiert dafür, die starre 60-Prozent-Grenze durch individuelle Vorgaben für den Schuldenabbau zu ersetzen. Sie sollen die Situation der einzelnen Länder berücksichtigen.
So liegen über 75 Prozent der griechischen Staatsschulden bei öffentlichen Gläubigern. Die Laufzeiten der Kredite reichen bis ins Jahr 2070, die Zinsen sind niedrig. Das verbessert die Schuldentragfähigkeit. Inzwischen beginnt sich in der EU die Erkenntnis durchzusetzen, dass die 60-Prozent-Grenze nicht mehr realistisch ist. Die Ökonomen des EU-Stabilitätsfonds ESM sprechen sich dafür aus, die Vorgabe auf 100 Prozent des BIP heraufzusetzen.
Plant auch Deutschland Lockerung der Schuldenbremse?
Auch die Defizitregeln stehen zur Disposition. Mitsotakis wünscht sich eine flexiblere Regelung. So sollen bestimmte Ausgaben wie staatliche Investitionen in den Klimaschutz, die Digitalisierung oder die Verteidigung nicht voll auf das Haushaltsdefizit angerechnet werden. Diese Ansicht gewinnt in der EU immer mehr Anhänger. Selbst in Deutschland gibt es Überlegungen, die Schuldenbremse für bestimmte Ausgaben zu umgehen.
Vor allem beim Klimaschutz steht die EU vor gewaltigen Ausgaben. Die Umsetzung der Klimaziele wird nach einer Schätzung der EU-Kommission bis 2050 Investitionen von 650 Milliarden Euro erfordern. Sie können nicht nur privat finanziert werden. Ein großer Teil davon kommt in Form von Infrastrukturprojekten auf die Staaten zu.
Weil das die Finanzkraft schwächerer Länder übersteigen könnte, gibt es in den Südstaaten Überlegungen, den Corona-Aufbaufonds (RRF) der EU zu einem dauerhaften Finanzierungsinstrument zu machen. Die EU könnte dann für bestimmte Investitionen am Kapitalmarkt günstiger Geld aufnehmen, als es einzelnen Staaten möglich ist. Ein heikles Thema, denn damit würde der Einstieg in die Schuldenunion wohl besiegelt.
Das könnte auch in der Berliner Ampel-Koalition für kontroverse Debatten sorgen. Was der Koalitionsvertrag zum Thema Stabilitätspakt sagt, ist bewusst vage gehalten. Dort steht, der Pakt habe „seine Flexibilität bewiesen“. In diesem Rahmen wolle man an einer „Weiterentwicklung der fiskalischen Regeln“ arbeiten, heißt es. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte kürzlich bei seinem Antrittsbesuch in Rom, der Stabilitätspakt biete in seiner bisherigen Form genug Spielraum, um Krisen mit höheren Ausgaben und Schulden zu begegnen.
Der italienische Premier Mario Dragi sieht dagegen Reformbedarf und hofft, dass man Deutschland die Argumente der Südländer für eine deutliche Lockerung der Schuldenregeln „näher bringen kann“. Er erwarte, „dass sich die Positionen annähern werden“, sagte Draghi.
Die Debatte um die Reform des Stabilitätspaktes wird in den nächsten Monaten Fahrt aufnehmen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Südländer mit Protagonisten wie Draghi, Mitsotakis und Macron mehr Einfluss nehmen wollen. Viel wird davon abhängen, wer nach der französischen Präsidentenwahl im Mai in den Èlysée-Palast einzieht. Danach dürfte es darauf ankommen, ob Deutschland und Frankreich einen Kompromiss finden, den sowohl die Südstaaten wie auch die Nordländer mittragen können.