Interview mit Christiane Benner

IG-Metall-Vize zum Fachkräftemangel: „Ich fordere mehr Engagement von den Unternehmen“

Die zweite Vorsitzende der IG Metall Christiane Benner.

Die zweite Vorsitzende der IG Metall Christiane Benner.

Frankfurt am Main. Christiane Benner weiß um die Heraus­forderungen, die auf die deutsche Wirtschaft und damit auch auf die IG Metall zukommen. Doch sie präsentiert sich im RND-Interview zuversichtlich. „Geschichte wird gemacht“, sagt die zweite Vorsitzende der Gewerkschaft. Die Kunst bei der Bewältigung der multiplen Krisen – vom Klimaschutz bis zur Digitalisierung – sei, sich die Themen Stück für Stück vorzunehmen.

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Hohe Priorität hat für sie der Kampf gegen den Fachkräfte­mangel. Es sei nicht akzeptabel und peinlich für Deutschland, dass 2,3 Millionen junge Menschen keine abgeschlossene Ausbildung hätten. Sie fordert mehr Engagement von Unternehmen, um Betroffene ausbildungsfähig zu machen und ins Berufsleben zu führen. Und sie verlangt, die Mitbestimmung auszubauen. Vieles deutet darauf hin, dass Benner dafür demnächst als neue Co-Vorsitzende kämpfen wird; im Herbst wird über die Nachfolge des IGM-Chefs Jörg Hofmann entschieden. Die 55-jährige Diplom-Soziologin wäre die erste Frau an der Spitze der weltweit größten Einzel­gewerkschaft.

Frau Benner, sind Sie ein optimistischer Mensch?

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Ja, ich bin ein sehr optimistischer Mensch.

Diesen Optimismus werden Sie vermutlich noch gut gebrauchen können: Die massivsten Veränderungen in der Industrie seit dem Zweiten Weltkrieg müssen bewältigt werden.

Für uns alle in der IG Metall ist auch in fordernden Zeiten klar: Geschichte wird gemacht. Wir haben es nicht mit gottgegebenen Dingen zu tun. Bei der Transformation der Wirtschaft und beim Thema Klimawandel haben Gewerkschaften eine ganz wichtige Funktion. Wir können mit unseren Aktivitäten auch die Demokratie stärken. Mein Optimismus kommt von den vielen Menschen in den Betrieben, die engagiert mitgestalten.

Neben dem Klimaschutz, wo es klemmt, haben wir den Fachkräfte­mangel, Probleme mit der Infrastruktur, wir müssen leider die Rüstungs­industrie hochfahren und eine Digitalisierung kommt hinzu. Kann unser Staatsapparat das bewältigen?

Ich bin so vermessen zu sagen, dass es für all diese Punkte Lösungen gibt. Aber die Komplexität ist immens. Die Kunst ist, sich die Themen Stück für Stück vorzunehmen, ohne das Ganze zu vergessen. Im Koalitions­vertrag der Ampel sind viele dieser Aufgaben immerhin deutlich formuliert. Wir als Gewerkschaft können einiges tun. Aber wenn es zum Beispiel um die Ansiedlung einer Chipfabrik oder von Batteriezellen­fertigung geht, braucht es finanzielle Anreize vonseiten des Staats. Richtig ist, dass Politik und Unternehmen alles andere als raketen­schnell sind. Die Ladeinfrastruktur für Elektroautos wird viel zu langsam ausgebaut, die erneuerbaren Energien ebenfalls. Es ist auch unbefriedigend, dass wir angesichts der notwendigen Verringerung von CO₂-Emissionen mehr über Autobahnen als über mehr Schienen diskutieren.

Schild im Schaufenster eines Geschäftes, Restaurant oder Bar mit der Aufschrift: Aushilfe gesucht, Personal und Mitarbeiter Suche Konzept FOTOMONTAGE

Deutschland sucht Verstärkung

Nahezu alle Branchen ächzen bereits heute unter dem Fachkräfte­mangel. Das Problem wird in den kommenden Jahren noch massiver werden. Die Ampel­koalition hat ein Konzept auf den Tisch gelegt – wird das ausreichen?

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Ist das Problem der geringen Geschwindigkeit in der Transformation beispielsweise bei Autobauern angekommen?

Es gibt inzwischen überall Planungen und Aktivitäten für den Hochlauf der Elektro­mobilität. Ich glaube aber, dass sich dieser Wandel noch mal deutlich beschleunigen wird. Wir müssen diesen Umbau intelligent hinbekommen. Das bedeutet, den Beschäftigten durch Qualifizierung eine Perspektive zu geben.

Aber unvermeidbar ist, dass die Transformation Jobs vernichtet – insbesondere bei Automobil­zulieferern, die sich auf Verbrenner­technik spezialisiert haben.

Das stimmt. Firmen, die sich noch nicht auf den Wandel eingestellt haben, kommen zunehmend in die Bredouille. Zusammen mit den Arbeits­agenturen, den Kammern, mit Arbeitgebern und Hochschulen haben wir regionale Transformations­netzwerke aufgebaut: Wenn Jobs wegfallen, schauen wir, wo neue Tätigkeiten entstehen und wie die Menschen dort eine gute Zukunft bekommen. Continental verlagert die Fertigung von Bremssystemen im rheinland-pfälzischen Rheinböllen schrittweise nach Osteuropa. IG Metall und Betriebsräte haben durchgesetzt, dass dort stattdessen eine Produktion für fahrerlose Transport­systeme aufgebaut wird. Dafür werden die Beschäftigten qualifiziert. Das ist nicht einfach: Die Leute arbeiten noch hoch getaktet in der Bremsen­fertigung und müssen sich zugleich weiterbilden. Meine Erfahrung ist aber, dass die Menschen aus solchen Qualifizierungs­maßnahmen gestärkt herauskommen.

Das hört sich nach Harmonie mit den Arbeitgebern an.

Nein! Das ist Boxing and Dancing. Unternehmer schätzen Betriebsräte, weil sie etwa während der Pandemie den Laden am Laufen gehalten haben. Auf der anderen Seite werden Schließungen einfach verkündet – wie bei Ford in Saarlouis. Wir müssen immer wieder kämpfen, um Standorte zu erhalten und neue Produkte für die Fertigung dort anzusiedeln. Wir haben erreicht, dass die Politik gute Rahmen­bedingungen für Unternehmen geschaffen hat, etwa mit Kurzarbeit- oder Weiterbildungs­regelungen. Die IG Metall setzt sich für den Ausbau dieser Instrumente ein. Wir versuchen Entwicklungen zu antizipieren, um dann von Arbeitgebern frühzeitig neue Wege zu verlangen. Wir haben zum Beispiel bei Ford seit einigen Jahren eine Elektro­strategie eingefordert.

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Tarifeinigung zwischen IG Metall und Arbeitgeber­verband

Vereinbart wurde eine Anhebung der Tarifgehälter in zwei Stufen um 5,2 Prozent ab Juni 2023 und um 3,3 Prozent ab Mai 2024.

Aber dann gibt es solche Fälle wie Kurzarbeit bei Mercedes in Bremen, obwohl der Konzern Rekordgewinne einfährt.

Ich habe großes Verständnis für die Empörung darüber. Aber es handelt sich um eine Versicherungs­leistung: Mercedes hat einen Anspruch auf die Zahlung von Kurzarbeitergeld für seine Beschäftigten, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Was aber hinter der Diskussion steht: Menschen sehen, dass es nicht gerecht zugeht.

Sie fordern auch mehr Mitbestimmung in den Betrieben. Was meinen Sie damit konkret?

Wir wollen mehr Mitbestimmung für Beschäftigte über die strategische Ausrichtung, auch in ökologischen Fragen. Arbeitgeber müssen sich viel konkreter mit Konzepten von Betriebsrätinnen und Betriebsräten für nachhaltige Unternehmens­konzepte auseinander­setzen. Etwa für eine ressourcen­schonende Produktion, die dann zwar Investitionen braucht, aber schneller das Ziel eines geringeren CO₂-Ausstoßes erreicht. Bislang können Arbeitgeber zu solchen Vorschlägen einfach Nein sagen. Wir kommen deshalb zu oft sehr schnell ins kurze Gras und können dann nur noch Sozial­tarifverträge verhandeln. Deshalb ist es enorm wichtig, dass wir als Gewerkschaft und die Beschäftigten in strategischen, ökonomischen und ökologischen Fragen in eine stärkere Position kommen. Auch dafür brauchen wir eine Weiterentwicklung des Betriebs­verfassungs­gesetzes.

Jörg Hofmann, erster Vorsitzender der IG Metall, gratuliert nach seiner Wiederwahl beim Gewerkschaftstag der IG Metall Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall, zu ihrer Wiederwahl.

Jörg Hofmann, erster Vorsitzender der IG Metall, gratuliert nach seiner Wiederwahl beim Gewerkschaftstag der IG Metall Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall, zu ihrer Wiederwahl.

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Halten Sie das für durchsetzbar auch gegenüber der Regierungspartei FDP?

Da steht uns eine große Auseinander­setzung bevor. Ich halte es aber für absolut wichtig, diese Debatte zu führen, denn es geht ums Eingemachte: Wie viel industrielle Wertschöpfung wird angesichts der umfassenden Transformation hierzulande erhalten? Davon hängt dann auch die Entwicklung der Einkommen in Deutschland ab. Die nächsten zwei bis drei Jahre werden absolut entscheidend. Die Aufgabe aller ist, den Menschen eine Perspektive zu geben. Sonst überlassen wir den Populisten das Feld mit ihrem rückwärts­gewandten „Rettet den Diesel“.

Probleme am Ausbildungsmarkt

Gehört dazu auch der Kampf gegen Fachkräfte­mangel? Ist da nicht ein gigantisches Staatsversagen festzustellen?

Wir zählen alle Vögel, die in den Süden fliegen. Wir wissen aber nicht, wo die Leute verbleiben, die keine Ausbildung haben – das sind immerhin 2,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren. Das ist nicht akzeptabel und peinlich für ein hoch entwickeltes Land wie Deutschland. Besonders schlimm ist, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler kaum noch Zugang zum Ausbildungs­markt haben. Wir brauchen eine Trendumkehr: Wir müssen das Übergangs­management von der Schule in den Beruf verbessern und die Unternehmen müssen den seit Jahren anhaltenden Rückgang der Ausbildungsstellen unbedingt stoppen. Denn da entsteht eine Abwärtsspirale: Firmen stellen hohe Erwartungen und sagen: Wir finden keine Azubis mehr, deshalb reduzieren wir die Zahl der Ausbildungsplätze. Viele junge Menschen wollen eine Ausbildungsstelle, kriegen aber keine. Hier müssen sich Unternehmen umstellen. Es gibt schon gute Beispiele: Unternehmen, die die Schülerinnen und Schüler zunächst über Schulpraktika in den Betrieb holen und sie dann fit für die Ausbildung machen.

Aber was soll jetzt genau mit den 20- bis 34-Jährigen geschehen?

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Ich fordere mehr Engagement von den Unternehmen. Die Firmen müssen – gerade in Sparten mit großem Mangel – Leute in kleinen Lerngruppen und mit Werksunterricht ausbildungsfähig machen und sie ins Berufsleben führen. Das muss systematisch auf regionaler Ebene angegangen werden, auch in Zusammen­arbeit mit der Arbeitsagentur. Aus einer positiven Erfahrung in der Arbeitswelt können Menschen dann in höhere Qualifikations­stufen aufsteigen. Diese Möglichkeiten müssen im Rahmen der Transformation auch Facharbeiter erhalten, die sich beispielsweise IT-Kompetenz aneignen.

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Wie wird künstliche Intelligenz die Arbeitswelt verändern?

Digitalisierung und künstliche Intelligenz werfen neue Fragen auf: Wie gehen wir etwa mit Themen wie Datenschutz, Datenhoheit oder Leistungs­kontrollen um? Das erscheint mir im Moment noch wesentlich weniger überschaubar als die Veränderungen bei der Hardware – also etwa beim Übergang vom Verbrenner- zum E‑Motor. Wir sehen in jedem Fall, dass sich etwas verschiebt: Die Zahl der Arbeitsplätze in den klassischen kaufmännischen Berufen wird abnehmen, zugleich entstehen neue Felder wie Community­management oder Datenanalyse. Einer der ersten Schritte ist nun, Pilotvereinbarungen für den Einsatz von KI abzuschließen.

Das alles deutet darauf hin, dass die IG Metall immer mehr zu einer Angestellten­gewerkschaft wird.

Wir vertreten alle Beschäftigten in den Unternehmen unserer Branchen. Wir bilden die sich verändernden Belegschaften bei unseren Mitgliedern ab, deshalb sind Angestellte eine wachsende Gruppe in der IG Metall. In der Pandemie war es sehr wichtig, die Arbeitsbedingungen im Homeoffice zu gestalten. Wir setzen uns für Beschäftigte im Büro und am Band ein. So haben wir schon 2018 für verschiedene Beschäftigten­gruppen das tarifliche Zusatzgeld durchgesetzt und ihnen die Möglichkeit verschafft, souverän zwischen mehr Geld oder freier Zeit zu wählen. Das sind Fragen, die immer wichtiger werden. Frauen wollen häufig mehr und Männer vielfach weniger arbeiten. Wir müssen diese Themen stärker diskutieren, weil wir merken, dass sich die Ansprüche bei partnerschaftlicher Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verändern. Das greift in der Produktion und auch im Büro. Letztlich geht es für alle um menschenwürdige und zeitsouveräne Arbeit.

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