Zwischenbilanz der Wirecard-Pleite: Was bisher geschehen ist und worum es geht
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Der Skandal rund um den Zahlungsdienstleister Wirecard ist in vielerlei Hinsicht einmalig. Zeit für eine Zwischenbilanz.
© Quelle: imago images/Alexander Pohl
München. Es war einmal unzweideutig, Markus Braun als Erfinder von Wirecard zu bezeichnen. Der Manager mit dem Habitus eines Techniknerds hat das Unternehmen 2002 praktisch neu gegründet und es 2018 als Vorstandschef bescheiden in den Dax geführt. “Ich lege keinen Wert auf Bekanntheit”, hat er damals erklärt und sich rar gemacht.
Wirecard-Boss Braun: “Wir sind einzigartig”
Auf Hauptversammlungen wurde der Österreicher verehrt. “Ich danke Ihnen für die vielen Glücksmomente, die Sie mir in den vergangenen Jahren beschert haben”, lobte eine Wirecard-Aktionärin noch voriges Jahr. “Wir sind einzigartig”, lobte der Vorstandschef sein Unternehmen. Das stimmt auf gewisse Weise. So wie es heute aussieht, wurde der Konzern aber eher im Sinn eines Potemkinschen Dorfes erfunden. Nicht nur reuige Wirtschaftsprüfer und Staatsanwälte fürchten, dass Wirecard weniger der aufstrebende Star am deutschen Aktienhimmel war, als den ihn Braun beschrieben hat, sondern ein Trugbild, wie es in dieser Dimension in der deutschen Wirtschaftsgeschichte noch nie gezeichnet wurde.
Schuldfragen harren ihrer Klärung. Eingestehen muss man sich, dass die Vorgänge einer Bananenrepublik würdig sind. “Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland”, hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zerknirscht festgestellt.
Wirecard und die Sehnsucht nach einem deutschen Digitalchampion
Um zu erahnen, wie es so weit kommen konnte, muss man etwas über den Traum wissen, den Wirecard lange bedient hat und dem viele leichtgläubig angehangen haben. Deutschland ist mit Digitalkonzernen von Weltrang nicht gerade üppig gesegnet. Dieses Geschäft dominieren andere Nationen, allen voran die USA. Insofern wurde eine Sehnsucht befriedigt, als der Aufsteiger die altehrwürdige Commerzbank symbolträchtig aus dem Dax verdrängen konnte. Neue löst alte Ökonomie ab.
Wirecard: Das Geschäft war nie transparent
Transparent war das Geschäft des Zahlungsdienstleisters aus Aschheim bei München aber nie. Es wurde nichts Greifbares produziert wie ein Auto. Vielmehr hat Wirecard dafür gesorgt, dass Zahlungsströme in Milliardenhöhe bargeldlos zwischen Millionen Kunden und Hunderttausenden Händlern fließen konnten. Wenn im Internet oder Laden am Kartengerät elektronisch bezahlt wurde, hat Wirecard dafür gesorgt, dass das Geld beim Empfänger ankommt. Diese Art von Geschäft benötigt Treuhandkonten. Denn bisweilen kauft jemand ohne gedecktes Konto ein. Dann begleichen von Wirecard gefüllte Treuhandkonten als eine Art Versicherung für den Händler offene Beträge. In Asien aber verfügt Wirecard anders als in anderen Teilen der Welt nicht über eigene Geschäftslizenzen. Dort ist alles über rund 100 Partner gelaufen. Es wurde Wirecard von diesen Dritten vermittelt. Treuhandkonten waren dort dennoch nötig. Die wurden für Asien bis 2018 in Singapur und ab 2019 auf den Philippinen geführt. Jedenfalls wurde das in Wirecard-Bilanzen behauptet.
In Wahrheit gab es die philippinischen Treuhandkonten und damit 1,9 Milliarden Euro nicht. Auch hinter denen in Singapur stehen mittlerweile große Fragezeichen. Der Verdacht besteht, dass die Konten nicht existiert haben, weil es das Geschäft, für das sie gedacht waren, nie gegeben hat. Bewahrheitet sich das, wäre in manchen Jahren ein Drittel des behaupteten Wirecard-Umsatzes und die Hälfte aller Gewinne frei erfunden worden. Ernste Hinweise darauf, dass das so war, gibt es seit Anfang 2019. Geliefert haben die allerdings nicht findige Wirtschaftsprüfer oder die deutsche Finanzaufsicht Bafin – sondern die britische Wirtschaftszeitung “Financial Times” (FT).
Bafin-Chef gesteht Versagen seiner Behörde
In einer Serie von Artikeln hat sie immer wieder Scheinumsätze im großen Stil und frisierte Bilanzen angeprangert. Im Frühjahr 2019 hat die Bafin reagiert und Strafanzeige erstattet. Aber nicht gegen Wirecard, Manager oder Strippenzieher im Hintergrund, sondern gegen “FT”, Reporter und Spekulanten, die angeblich den Wirecard-Aktienkurs in den Keller schreiben wollten, um per Finanzwetten daran zu verdienen. Bafin-Chef Felix Hufeld hat mittlerweile ein Versagen seiner Behörde eingestanden, die von der EU-Finanzaufsicht Esma nun aufs Korn genommen wird.
Versagt haben auch die Wirtschaftsprüfer von EY, die Wirecard-Bilanzen über ein Jahrzehnt Unbedenklichkeit bescheinigt und erst ihr Testat für das Geschäftsjahr 2019 verweigert haben, nachdem Missstände mit Händen greifbar wurden. Die Opfer dieses Versagens sind zahlreich. 5800 Beschäftigte des Pleiteunternehmens bangen um ihren Job, Tausende Wirecard-Aktionäre um ihr Geld. Rund 20 Milliarden Euro Börsenwert sind wohl unwiederbringlich verloren, was zahlreiche Schadensersatzklagen provoziert. Anlegeranwälte wie die baden-württembergische Kanzlei Tilp, die schon im VW-Dieselskandal aktiv geworden ist, haben Regressforderungen in Milliardenhöhe gegen Wirecard und EY auf den Weg gebracht. Andere wie die Münchner Anlegerkanzlei Mattil prüfen auch eine Haftung der Ratingagentur Moody’s, die Wirecard noch im Sommer 2019 hohe Solidität und ein stark wachsendes Asiengeschäft bescheinigt hatte.
Milliarden vernichtet, doch Klagen könnten ins Leere laufen
Die Erfolgsaussichten aller Klagen sind offen. Bei Wirecard selbst ist möglicherweise nicht mehr viel zu holen, selbst wenn Anleger ihre Schadensersatzprozesse gewinnen. Gleiches gilt für das Wirecard-Management. Erfolgreiche Klagen gegen Wirtschaftsprüfer, Ratingagenturen oder gar die Bafin gelten als sehr schwierig. Zudem steht die Aufklärung des mutmaßlich kriminellen Geschehens noch am Anfang.
Zwei Experten stehen dabei im Fokus. Zum einen ist das der vorläufige Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffe. Er gilt als leiser Star der Szene, seit er 2002 die Pleite des Kirch-Medienimperiums bearbeitet hat. Zuletzt war der 57-jährige Jurist für die hierzulande mutmaßlich größte Anlegerpleite um die Schiffscontainerfirma P&R zuständig, wo 3,5 Milliarden Euro im Feuer stehen. Wirecard könnte diese Dimension in den Schatten stellen. Am Mittwoch wurde klar: Wirecard wird voraussichtlich in Einzelteile verkauft: Michael Jaffé meldete in der Nacht zum Mittwoch, dass sich bereits “zahlreiche Interessenten weltweit für den Erwerb von Geschäftsbereichen gemeldet” hätten.
Zum anderen ist Hildegard Bäumler-Hösl als Aufklärerin gefragt. Die Oberstaatsanwältin hat 2006 den Siemens-Bestechungsskandal ermittelt und auch dafür gesorgt, dass ein betrügerischer Vorstand der bayerischen Landesbank für achteinhalb Jahre ins Gefängnis musste. Gegen Wirecard-Erfinder Braun und auch mutmaßlich seinen Ex-Vorstandskollegen Jan Marsalek hat sie jüngst Haftbefehle erwirkt. Am Mittwoch wurden die Büros von Wirecard durchsucht.
Während Braun sich der Justiz gestellt hat, kurzfristig in Untersuchungshaft genommen wurde und gegen Zahlung von 5 Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß gekommen ist, gilt Marsalek als flüchtig. Möglicherweise war er der eigentliche Erfinder des Potemkinschen Wirecard-Dorfs. Der 40-Jährige war zuständig für das operative Geschäft und “Feindaufklärung”. Als solche hat er einmal den Kampf gegen böswillige Journalisten und Spekulanten bezeichnet. Marsalek hat auch Treuhänder ausgewählt und das Netz teilweise dubioser Drittpartnerfirmen aufgebaut. Von Wirecard wurde er fristlos gefeuert.
Wirecard: Noch immer mehr Fragen als Antworten
Vorige Woche haben philippinische Behörden ihn kurzfristig im ostasiatischen Inselstaat ausgemacht, dann aber aus den Augen verloren. Es besteht der Verdacht, dass der enge Braun-Vertraute Marsalek sich nach China abgesetzt hat und mittlerweile per internationalem Haftbefehl in aller Welt gesucht wird. Er wäre der erste Ex-Vorstand eines Dax-Konzerns, für den Letzteres gilt. Aber noch gibt es bei Wirecard weit mehr Fragen als Antworten.