Anders als Mann denkt?
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Unterscheiden sich männliche und weibliche Gehirne?
„Frauengehirne ticken anders als Männergehirne.“ In diesem Tenor berichteten viele Medien, als das Ergebnis einer Untersuchung der Neurowissenschaftlerin Ragini Verma von der University of Pennsylvania bekannt wurde. Das Resultat schien eindeutig: Die Gehirne waren bei den Geschlechtern unterschiedlich vernetzt. Bei Frauen fanden sich im Schnitt mehr Verbindungen zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte, bei Männern gab es eine engere Vernetzung innerhalb der Hirnhemisphären.
So mancher Berichterstatter sah in der stärkeren Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften einen Grund dafür, dass Frauen besser multitasken können, obwohl die Studie dies überhaupt nicht untersucht hatte.
Nicht nur in der Presse, auch in der Populärliteratur wimmelt es von Geschlechterklischees. Männer könnten aufgrund einer anderen Hirnausstattung etwa besser einparken und Dinge reparieren, Frauen seien dafür einfühlsamer. Doch solche Geschlechterdifferenzen sind unter Forschern äußerst umstritten.
"Frauen sind im Multitasking genauso schlecht wie Männer“
Der Neurobiologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich zeigte im Anschluss an Vermas 2014 veröffentlichter Studie, dass sich die Geschlechterunterschiede in der anatomischen Vernetzung fast vollständig in Luft auflösen, wenn man die unterschiedliche Gehirngröße herausrechnet – schließlich wiegt ein durchschnittliches männliches Gehirn etwa 1400 Gramm, ein weibliches hingegen 1300 Gramm. Selbst innerhalb ein und desselben Geschlechts waren bei den größeren Gehirnen die beiden Hälften schwächer vernetzt als bei den kleineren. Die stärkere Verknüpfung innerhalb einer Hirnhälfte bei Männern lag also wohl nicht in erster Linie am Geschlecht, sondern schlicht daran, dass Männer im Schnitt größere Gehirne haben.
„Es gibt in Wahrheit keinen einzigen Beleg dafür, dass die Kommunikation zwischen den Hirnhälften der Frauen besser ist als bei den Männern“, sagt Jäncke. „Außerdem sind Frauen im Multitasking genauso schlecht wie Männer.“ Andere Klischees erweisen sich ebenfalls genau als das – als Klischees. So schlagen sich Männer in Mathematik im Grunde nicht besser als Frauen. Nur im räumlichen Denken, wenn Probanden zwei- oder dreidimensionale Objekte im Geiste drehen sollen, sind Männer im Schnitt etwas besser.
Für Jäncke sind Aussagen wie „Männer sind im räumlichen Denken besser, deshalb sollten sie naturwissenschaftlich-technische Berufe wählen“ nicht zielführend und eigentlich diskriminierend. Auch das Klischee vom testosteronstrotzenden, aggressiven männlichen Geschlecht ist nur eine Halbwahrheit. Zwar stimmt es: Zu Aggression in Form von körperlicher Gewalt neigen eher die Männer. Beim Thema indirekte Aggression in Form von verbaler Gewalt haben hingegen Frauen die Nase vorn. „Im Tierreich finden sich viel leichter und eindeutigere Geschlechterdifferenzen“, sagt Jäncke. „Bei männlichen Schimpansen etwa hängt ein höherer Testosteronspiegel im Blut tatsächlich mit aggressivem Verhalten zusammen.“ Bei Männern sei der Zusammenhang hingegen kaum statistisch signifikant.
Im Sexualtrieb unterscheiden sich Männer und Frauen
Gleichwohl gibt es durchaus Geschlechterdifferenzen, zum Beispiel solche, die das Sexualverhalten von Männern und Frauen bis zu einem bestimmen Grad unterschiedlich prägen. So ist eine bei Männern für den Sexualtrieb zuständige Region in der Hypothalamus-Region größer als bei Frauen. Unbestritten ist auch, dass Geschlechtshormone wie Östrogen und Testosteron, die bei Männern und Frauen in anderer Konzentration vorliegen, grundsätzlich das Gehirn und das Denken beeinflussen können. In Untersuchungen sind Frauen bei bestimmten „typisch männlichen“ Denkaufgaben im Durchschnitt besser gegen Ende ihres Menstruationszyklus, wenn die Konzentration des weiblichen Hormons Östrogen geringer ist.
Umstritten ist allerdings, wie weit die Geschlechterunterschiede reichen und was sie genau bedeuten. So behaupten einige Forscher wie der britische Psychologe Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge, dass die Nervensysteme von Männern und Frauen fundamental anders sind. Nach einer bekannten Theorie von Baron-Cohen gibt es auf der einen Seite das empathische, an Menschen interessierte weibliche Gehirn und auf der anderen Seite das nach Systematisierung strebende männliche Gehirn, das an Dingen interessiert sei.
Dem widerspricht Gina Rippon, emeritierte Neurowissenschaftlerin an der Aston University in Birmingham. Die durchschnittlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau fallen vielfach so verschwindend gering aus, dass sie bedeutungslos seien. „Zu wissen, dass jemand eine Frau ist, garantiert nicht, dass sie beispielsweise empathisch ist“, sagt Rippon. Das gilt selbst für einen der deutlichsten Geschlechtsunterschiede. Rund 80 Prozent der Männer verfügen über ein größeres Gehirn als Frauen. Das heißt aber auch: 20 Prozent der Frauen haben ein gleich großes oder gar größeres Gehirn als Männer. Man kann daher bei einem bestimmten Gehirn gar nicht aufgrund der Größe entscheiden, ob es sich um ein Männer- oder Frauengehirn handelt.
Die Idee eines typischen Männer- und eines typischen Frauengehirns sei wissenschaftlich nicht haltbar, betont Jäncke. „Es gibt kein konsistentes hirnanatomisches Merkmal, anhand dessen man Frauen und Männer eindeutig unterscheiden kann.“ Bei Nagetieren werden oft deutliche Geschlechtsunterschiede etwa im Mandelkern gefunden, dem Emotionszentrum des Gehirns. „Beim Menschen können diese Befunde in der Regel nicht bestätigt werden. Dort ist es mit den Geschlechtsunterschieden viel komplexer als bei Tieren.“
Laut einer Studie der Psychologin Daphna Joel von der Tel Aviv University besteht das Gehirn von Männern und Frauen vielmehr aus einem Mosaik von „männlichen“ und „weiblichen“ Anteilen. Das gelte auch für psychologische Merkmale wie geistige und emotionale Fertigkeiten, sagt Joel. „Menschen mit nur ,weiblichen’ oder nur ,männlichen’ Merkmalen sind extrem selten. Die meisten Menschen haben ein Mosaik von Geschlechtermerkmalen.“