Balkon statt Balkan: Was machen wir nun mit diesem Sommer?
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Der Urlaub zu Hause, den viele in diesem Jahr machen müssen oder wollen, führt zu einem neuen Fokus auf Balkon und Terrasse.
© Quelle: Franziska Gabbert/dpa-tmn
Wir sollen. Wir dürfen nicht. Wir müssen. Wir sind verpflichtet. Es wird empfohlen, dass. Man untersagt uns. Abstand, Maske, Homeoffice, nur zwei Kunden im Laden bitte, Besuchsverbot, Reisewarnung – die Corona-Zeiten sind voll von Regelungen, die alle eine Auswirkung haben: Sie schränken uns ein. Ja, sie sind notwendig, ja, sie schützen uns – aber dieser Schutz geht mit Begrenzung (im Sinne des Wortes) einher. Und wenn es nicht die Pandemiebestimmungen sind, die uns einschränken, dann ist es unsere eigene Angst.
Die Hälfte der Deutschen hat ihre Reisepläne verworfen
Vor allem jetzt, im Sommer, wo die Deutschen als Reiseweltmeister normalerweise scharenweise zu fernen Stätten und Stränden aufbrechen würden, hindert uns die Pandemie. Sonnenbaden und Tempelangucken in Thailand? Vergessen Sie’s. Italien? Och, muss vielleicht nicht sein dieses Jahr. USA? Gott bewahre. Eine Umfrage im Mai ergab: Die Hälfte der Deutschen hat ihre ursprünglichen Sommerreisepläne beerdigt. Viele wollen gar nicht mehr verreisen dieses Jahr, 31 Prozent planen einen Urlaub innerhalb Deutschlands. 19 Prozent wollen es mit dem europäischen Ausland versuchen. Nur 3 Prozent sind so mutig (oder waghalsig), schon wieder außereuropäische Ziele ins Auge zu fassen.
Und was machen wir nun mit diesem Sommer? Nehmen wir an, wir bleiben zu Hause. Ist das überhaupt Urlaub? Oder ist es bloß freie Zeit, wie ein unnatürlich in die Länge gezogenes Wochenende? Und wie füllt man diese Zeit, wenn man keine fremden Städte erkunden, nicht an blauen Lagunen liegen oder über unbekannte Bergpfade wandern kann? Im Internet finden sich gefühlt Hunderte von Empfehlungen, wie sich zumindest ein bisschen Urlaubsfeeling erzeugen ließe. Die meisten klingen so: karibische Tanzmusik auflegen, ausländische Gerichte kochen. Abends setzt man sich mit einem nicht allzu anspruchsvollen Buch und einem Cocktail auf den Balkon. Und wenn man sich langweilt, kann man das Fotobuch vom letzten Urlaub, das seit Monaten im Computer vor sich hin modert, endlich zu Ende bringen und dabei in Erinnerungen schwelgen.
Es muss nicht immer das Unbekannte sein
Klingt einfach. Klingt vielleicht ein bisschen zu einfach? Stimmt: Nach zwei Tagen sind wir von so einem Urlaubsgefühl wahrscheinlich bedient. In der eigenen Küche Paella zu kochen und so zu tun, als schmecke sie wie in Spanien, funktioniert nicht. Aber wieso brauchen wir überhaupt solche Tricks? Warum betrachten wir es als Defizit, wenn wir zu Hause Urlaub machen? Nun: Weil wir in Schemata denken. Weil alle anderen immer bis Kanada, Alaska oder Burma fahren und wir in Verdacht geraten, uns dergleichen nicht leisten zu können, wenn wir nicht auch weit weg fliegen. Und wenn wir uns das nicht leisten können, halten wir uns für Versager. Aber dieses Jahr fährt niemand nach Alaska.
Warum ist es also trotzdem schwer, nicht zu verreisen? Weil wir uns auf Unbekanntes, wenn es schön zu werden verspricht, mehr freuen als auf Bekanntes. Weil wir dieses Unbekannte, Exotische, Aufregende eher in weiter Entfernung vermuten, nicht bei uns um die Ecke. Und weil wir die Anker für unsere Erinnerungen leichter in Ungewöhnlichem setzen, in Zeiten und Erlebnissen, die vom Alltag und von der vertrauten Umgebung abweichen. Wir bewerten den Sommer (beispielsweise) in Südfrankreich höher als den Sommer in unserer Straße. Welchen Urlaub wir also schön finden, ist nicht nur an Hunderte von Kilometern und Sonnenuntergänge und aufregende Gewürze und tiefblaues Meer gebunden. Sondern ganz wesentlich an unsere Haltung dazu.
Das Beste aus der Situation machen
Wir können die Reisebeschränkungen, die uns mehr oder weniger zum Urlaub an unserem Wohnort zwingen, nicht ändern. Aber unsere Einstellung dazu können wir ändern. Wir können uns entweder als Opfer der bösen, bösen Zeitläufe und irgendwelcher Chinesen (oder Skifahrer, Politiker, Panikmacher, Schlachthofbetreiber etc.) sehen. Oder wir können die Situation nehmen, wie sie ist, und das Beste daraus machen. Wir können sie sogar als Chance sehen. Urlaub heißt ja zunächst einmal, dass nichts so sein muss, wie es sonst wäre. Dann nehmen wir doch als Erstes Urlaub von dem Stress, in den Urlaub zu fahren.
Bisher rasselte morgens um drei der Wecker, man musste zum Flughafen, immer die Angst im Hinterkopf, Wichtiges vergessen zu haben, dann all die anderen unausgeschlafenen Gesichter, schließlich raste man mitten in der Nacht nörgelnd mit anderen nörgelnden Leuten in einer Blechkiste in tausend Kilometern Höhe durch die Luft. Und dachte: Warum tue ich mir das an? Stattdessen: Ausschlafen. Die Kaffeemaschine steht dort, wo sie hingehört. Keine Kakerlaken in der Dusche. Außentemperaturen erträglich. Und jetzt kann man anfangen, die Tage zu planen.
Schöne Dinge in der eigenen Umgebung entdecken
Die Basis für positive Erinnerungen an unsere Urlaube ist, dass wir Unbekanntes erleben – das prägt sich im Gehirn mehr ein als das Wiederkehrende im Rest des Jahres. Also müssen wir dafür sorgen, dass wir Unbekanntes erleben. Dass wir Dinge tun, die wir sonst nicht tun. Eigentlich ist das ganz einfach. Man muss nicht die Umstände, man muss nur die Perspektive ändern. Wer seit Jahren immer denselben Weg mit dem Auto zur Arbeit gefahren ist, kann sich die Strecke mal per Rad oder zu Fuß vornehmen, und er wird sich wundern, was er dort alles zuvor nie wahrgenommen hat. Oder wie wäre es, Viertel zu erkunden, die wir sonst nie betreten?
Schließlich fotografieren wir im Ausland halbe Straßenzüge, an denen die Einheimischen achtlos vorbeilaufen. Man kann sich auch mal mit der Kamera in ein Industriegebiet vorwagen. Man kann sich einen Stadtführer der eigenen Stadt kaufen und nachschauen, was man noch nicht kannte. Man kann all die Orte besichtigen, von denen man immer gedacht hat, man müsse sie sich mal anschauen, aber nie dazu gekommen ist, und gedacht hat, mache ich, wenn ich Zeit habe.
Urlaub zu Hause kann einem die Augen öffnen
Endlich können wir mal mit offenen Ohren und Augen das neu betrachten, was wir sonst nur mit Blicken streifen, weil wir es zu kennen glauben. Die “New York Times” hat eine Liste der Vögel veröffentlicht, die derzeit wieder in der Stadt zu hören sind, samt Tondatei. Die Vögel sind plötzlich wieder zu hören, weil all der Krach und der Trubel wegen der Pandemie weniger geworden sind. Welche Vögel hören wir? Wissen wir, welche neuen Angebote unsere Museen haben? Sind wir auf dem Stand, was die Galerien in der Stadt angeht? Würden wir die Gebäude in der Fußgängerzone auch dann erkennen, wenn die Geschäfte im Erdgeschoss plötzlich weg wären? Haben wir unseren Liebsten eigentlich schon gezeigt, wo wir uns die ersten blutigen Knie geholt haben, wo wir das erste Mal geküsst wurden?
Apropos Küssen: Wie wäre es, jemanden Verlässliches zur Kinderbetreuung zu bitten, und die Eltern verbringen eine Nacht im ersten Hotel am Platze, samt Schampus im Whirlpool am Abend und Eins-A-Büfett am Morgen? Zu teuer? Ach was. Im Urlaub zahlen wir auf dem Markusplatz 11 Euro für einen Kaffee. Wir maulen zwar, aber wir zahlen. So eine Hotelnacht hält viel länger. Urlaub zu Hause ist auch eine gute Gelegenheit zu überprüfen, ob wir verreisen, um wegzufahren – oder um wiederzukommen. Mögen wir unseren Garten oder unseren Balkon und unsere Wohnung so, wie sie sind? Sind wir da, wo wir sind, weil wir dort sein müssen, etwa aufgrund des Jobs? Oder sind wir dort, weil es unser Zuhause ist? Sollten wir was ändern, wollen wir was ändern? Und wann fangen wir damit an? Wann, wenn nicht jetzt?
Wer weiß, vielleicht wird dieser Urlaub derjenige, in dem wir mehr sehen als in all den Jahren zuvor. Und 2021 können wir dann vielleicht auch wieder nach Südfrankreich fahren. Oder nach Alaska.