Bauchentscheidungen
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Gemütlichkeit im Familienbett: Micha Klaus liest seinen Kindern abends gern etwas vor – tagsüber kümmert sich Mutter Myriam um den Nachwuchs.
© Quelle: Privat
Hannover. Als Myriam Klaus neulich die Krankenkasse wechseln wollte, stand sie vor einem Problem: Das Formular reichte nur für fünf Personen. Die Angaben für ihr viertes Kind notierte sie deshalb auf der Rückseite. Ähnliche Situationen erlebt die 34-Jährige häufiger: Familienkarten gelten in der Regel für vier Personen. Die Online-Eingabemaske der Deutschen Bahn ist für maximal fünf Reisende bestimmt. Ein Auto mit sechs Sitzen? Besitzt Seltenheitswert. Ferienwohnungen für Großfamilien? Unauffindbar.
Es ist, als seien kinderreiche Familien nicht vorgesehen. Dabei sind sie in Deutschland nicht so selten: In gut 10 Prozent aller Haushalte leben drei oder mehr Minderjährige, das entspricht rund 900.000 Familien. Jedes vierte Kind wächst mit mehr als zwei Geschwistern auf. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) besteht die Idealfamilie für 50 Prozent jedoch aus Mutter, Vater und zwei Kindern.
Organisation ist alles
Das Modell lebten auch Ilona und Daniel Wöhlert lange Zeit. „Irgendwann haben wir aber gemerkt, da fehlt noch jemand“, sagt die 39-jährige Mutter. Inzwischen haben sie und ihr Mann Daniel fünf Kinder. Damit wird der Alltag zur Herausforderung: Die Krankenschwester und der Krankenpfleger legen ihre Früh-, Spät- und Nachtdienste so, dass sich immer einer um die Kinder kümmern kann. „Organisation ist ein ganz großes Thema“, sagt Ilona Wöhlert. Sie muss ständig für mehrere Personen denken und Multitasking-Fähigkeiten beweisen: Während sie das Baby stillt, faltet sie schon mal die Wäsche und fragt ein anderes Kind Vokabeln ab. „Wir leben ein großes soziales Gefüge. Jeder hat seine Pflichten“, erzählt die Mutter. Die älteren Geschwister erledigen Aufgaben im Haushalt und kümmern sich um die Jüngeren.
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Alles eine Frage der Organisation: Kinderreiche Familien brauchen Platz.
© Quelle: Privat
Kinder übernehmen früh Verantwortung
Kinder in Großfamilien übernehmen früh Verantwortung und werden zeitig selbstständig. „Doppelt so viele Kinder zu haben bedeutet nicht doppelt so viel Arbeit“, meint deshalb Bernd Holthinrichs, Vater von vier kleinen Kindern. Eltern, die mehrere Kinder haben, seien oft besonders entspannt im Umgang mit ihnen. Er glaubt auch nicht, dass Kinder in Großfamilien zu kurz kommen: „Wenn man gern Zeit mit ihnen verbringt, ist es egal.“
Außerdem haben sich die Kinder untereinander. Die zwei Mädchen und zwei Jungen der Familie Klaus spielen in wechselnden Konstellationen, Streit gibt es selten. „Zu uns kommen auch viele Freunde der Kinder, weil hier immer was los ist“, erzählt Mutter Myriam. Die vier Geschwister teilen sich zwei Kinderzimmer. Nachts schlafen mehrere Kinder gemeinsam in einem Bett. Im Wohnzimmer gibt es eine große Spielecke, das Spielzeug gehört in der Regel allen. „Mein und Dein gibt es bei uns selten, die Kinder lernen zu teilen und auch mal warten zu können“, erklärt Myriam Klaus.
In den vergangenen Jahren hat sie für jedes Kind Elternzeit genommen. Die eigene berufliche Karriere stellte sie spätestens nach der Geburt des dritten Kindes hintan. Ihr früherer Arbeitgeber habe schon mal einen cholerischen Anfall bekommen, wenn sie sich für die Betreuung eines kranken Kindes abmeldete, berichtet sie. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für Eltern von mehreren Kindern besonders schwierig. Bernd Holthinrichs wechselte deshalb aus der freien Wirtschaft an eine Schule und hat nun klar geregelte Arbeitszeiten. „Ich habe Kinder ja nicht bekommen, um sie bloß zu ernähren, sondern will sie auch erleben“, sagt er.
Eigene Bedürfnisse hintanstellen
Die Kinder der Familie Klaus gehen zwar mittlerweile zur Schule oder in die Kita. Mutter Myriam bleibt trotzdem zu Hause, weil der Alltag sonst nicht zu meistern wäre: Mit Aufräumen, Einkaufen und Kochen geht der Vormittag schnell vorbei. Nachmittags betreut sie ihre Kinder bei den Hausaufgaben oder bringt sie zu Freunden und Terminen. Einmal in der Woche nehmen die Töchter Reitunterricht. Die Kinder zu weiteren regelmäßigen Hobbys zu begleiten – dafür fehlt Myriam Klaus Zeit und Energie: „Abends um 9 Uhr bin ich oft platt“, berichtet sie. Und ja, sie sei auch schon mal vor Erschöpfung zusammengeklappt.
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Familienzeit: Die eigene Karriere hat Myriam Klaus hintangestellt.
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Eltern mehrerer Kinder sind stark belastet und müssen eigene Bedürfnisse und Interessen oft hintanstellen. Mit Verständnis ihrer Umwelt können sie allerdings selten rechnen – im Gegenteil: „Sind das wirklich alles ihre?“, werden sie oft ungläubig gefragt. Nicht selten schwingt das Vorurteil mit, Großfamilien seien entweder asozial oder besonders vermögend. Tatsächlich geraten kinderreiche Familien häufig in finanziell prekäre Situationen. Meist verfügen sie nur über ein Einkommen, haben aber vergleichsweise hohe Ausgaben fürs Wohnen, für Kleidung, Essen und für die Schule.
Eltern vieler Kinder sind zufriedener
Vor allem der angespannte Wohnungsmarkt und die finanzielle Belastung stelle für viele Familien ein Hinderungsgrund dar, mehr als zwei Kinder zu bekommen, sagt Florian Brich vom Bundesverband kinderreicher Familien: „30 Prozent der Zwei-Kind-Familien in Deutschland wünschen sich ein drittes Kind. Doch nur 10 Prozent wagen diesen Schritt.“ Diejenigen, die ihn gehen, sind oft selbst in Großfamilien aufgewachsen. Viele besitzen einen Migrationshintergrund. Religiosität wirkt sich ebenfalls positiv aus, ebenso ein gutes soziales Netzwerk, etwa Großeltern, die in der Nähe leben. Trotz aller Belastungen: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln sind Eltern von vielen Kindern vergleichsweise häufig zufrieden und leben gesünder. „Die Vernunft spricht gegen viele Kinder“, sagt Ilona Wöhlert. „Für uns bedeuten sie aber das größte Lebensglück.“
Von Sebastian Hoff/RND