Corona ist vieles – aber keine Chance für die Esskultur
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Wie verändert Corona die Esskultur? Eine Mitarbeiterin eines Restaurants in der Münzgasse reinigt die Tische mit Desinfektionsmittel.
© Quelle: Robert Michael/dpa-Zentralbild/d
Hannover. Was es plötzlich alles im Supermarkt gibt: Feinstes Rindertatar oder Ententerrinen zum Mitnehmen. Feinschmeckermenüs, Grillboxen und sogar Cocktails werden von Bringdiensten ins Haus geliefert. Sternerestaurants schicken exklusive Waren auf dem Postweg durch die ganze Republik. In unzähligen Livestreams im Netz rühren und braten Köche um die Wette. Rezepte boomen, und überall gibt es Koch- und Backanleitungen – zur Freude vieler Familien, die mangels Mensa- und Kantinenessen in der Corona-Krise täglich kochen oder zumindest nicht immer nur Tiefkühlpizza in den Ofen schieben wollen. Haben wir es also künftig mit gestählten Hobbyköchen und geläuterten Genussfeinden zu tun, die qualitativ hochwertige und durchaus auch anspruchsvolle Gerichte schätzen? Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die Esskultur in Deutschland?
Der Ansturm auf die Gastronomie blieb bisher aus
Restaurantbesuche sind derzeit nur unter Auflagen möglich. Das mag manchem nicht schmecken. Bisher war der Ansturm in der Gastronomie daher auch eher verhalten. Dennoch hoffen die Besitzer von Lokalen, Cafés und Bars auf regen Zulauf im Sommer – auch weil viele Menschen ihren Urlaub wohl in Deutschland verbringen werden. Doch wie zu Zeiten der sogenannten Fresswelle, als sich die Deutschen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nach der entbehrungsreichen Kriegszeit auf Fleisch, Alkohol, Eier, Zucker, Sahne und Butter stürzten, wird es wohl nicht werden.
“Krisen haben selten positive Effekte”, sagt Prof. Gunther Hirschfelder, Kulturanthropologe, Historiker und Autor des 2005 im Campus-Verlag erschienenen Buchs “Europäische Esskultur – Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute”. Gute Küche sei ein Thema der Hochkonjunktur, derzeit schrumpfe jedoch die Wirtschaft. Das führe wiederum zu mehr Sparsamkeit, meint Hirschfelder. Die Menschen kaufen in solchen Zeiten tendenziell billiger ein und kaufen vor allem die Dinge, die ihnen wichtig sind, was zum zweiten, wesentlich komplexeren Punkt führt: Der Deutsche und der Genuss – das ist keine Liebesgeschichte. Das Bild vom deutschen Kostverächter, der im Zweifel lieber seinem Auto einen Ölwechsel gönnt als sich selbst eine Flasche Champagner, ist eben weit mehr als nur ein Klischee.
Wie Kultur das Essen prägt – und umgekehrt
Der Boden war in Deutschland nie für eine blühende Esskultur bereitet. Im wahrsten Sinne des Wortes. Um das zu verstehen, hilft ein Blick nach Frankreich: Denn wer im 19. Jahrhundert fünf Hektar Land im Harz oder in der norddeutschen Tiefebene bewirtschaftete, saß am Abend vor einem spärlich gedeckten Tisch. Mit der gleichen Menge Land an der Loire, in der Normandie oder Bretagne wurde eine Familie nicht nur satt, sie konnte regelrecht schlemmen. Hinzu kam in Frankreich, dass schon während der Renaissance der Adel seinen Lebensstil nach außen trug. Tausende Franzosen pilgerten zu prunkvollen Schauessen an die Höfe. “Diese Lebensart forderte die Bevölkerung nach der Französischen Revolution ein. Die Adelsküche wurde zur Nationalküche und führte zum französischen Selbstverständnis einer Genussnation”, erläutert Hirschfelder.
Deutschland durchlief hier eine völlig gegensätzliche Entwicklung. Mitte des 13. Jahrhunderts zerfiel die Stauferherrschaft. Auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik entstand ein territorialer Flickenteppich, der zwar die Entstehung von Regionalküchen beförderte, aber der Entwicklung einer gesamtdeutschen Nationalküche im Weg stand. Während der Kaiserzeit (1871–1918) bildete sich kurzzeitig eine preußisch-protestantisch geprägte Esskultur des Maßhaltens heraus. Höchsten Ausdruck fand diese Strömung in den Bierpalästen, wo alle Gesellschaftsschichten aufeinandertrafen. Adelige, Diplomaten, Bürger. Dort gab es aber keinen Champagner und keine Austern, dort gab es Bier, Wurst und Blasmusik. Rund die Hälfte der Deutschen wechselte im 19. Jahrhundert schließlich ihren Wohnort, das zerstörte (wie auch die Massenarmut und die Industrialisierung) gewachsene Traditionen.
Süddeutschland konservierte die Traditionen, der Norden nicht
Nur in Süddeutschland, einem Gebiet mit kleineren Höfen und stärkeren Familienstrukturen, blieben Kultur und Tradition besser erhalten. In Norddeutschland, besonders auch in Niedersachsen, gab es vor allem große Gutshöfe mit reichen Hoferben und vielen Knechten und Mägden. Zwischen den Höfen lagen oft große räumliche Abstände, weswegen sich die Landwirtschaft auch stärker industrialisierte, sie wuchs in der Fläche und in der Viehwirtschaft. Aus der Masse heraus konnte sich keine gehobene Esskultur bilden.
“Niedersachsen ist außerdem protestantischer, da denke ich immer an den Spruch: ‘Wohne über deinem Stand, kleide dich nach deinem Stand und esse unter deinem Stand.’ Das hat einen hohen Wahrheitsgehalt, auch bezüglich kulinarischer Systeme”, sagt Hirschfelder. In der Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert kommt es zu einer Neubewertung von Essen und Trinken. Frömmigkeit zur Schau zu stellen wird als wichtiger bewertet, als sündenbehaftete Genussmomente zu erleben. “In dieser ganzen Gemengelage bildet sich die deutsche Genussfeindlichkeit heraus. Nach dem Motto: Das braucht es doch alles nicht. Und dann kamen die Verlusterfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinzu: Krieg, Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Nationalsozialismus, Flucht, Flächenbombardements”, führt Hirschfelder aus.
In den Nachkriegsjahren zähle Konsum, nicht Genuss
In den Nachkriegsjahren war dann zwar ein Großteil der Bevölkerung auf langlebige, materielle Konsum- und Investitionsgüter wie ein Radiogerät oder ein neues Auto fokussiert. Doch hochwertiger Wein und gutes Fleisch zählten nicht dazu. Man war auf Konsum aus, nicht auf Genuss. Wer im Krieg jemanden verloren oder selbst gekämpft hatte, mochte kein Weinglas selig in die Höhe heben. “Man kann nicht genießen, wenn man es sich nicht zugesteht”, sagt Hirschfelder.
Damals wie heute dominierte übrigens die Kartoffel den Speiseplan. Sie hatte sich als Grundnahrungsmittel in den Krisenjahren des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Gegessen wurde sie lange als Pellkartoffel. Mehr als hundert Jahre dauerte es, bis sie zu einem variantenreichen Krisengewinner wurde – wie viel schneller wäre die Knolle wohl mithilfe von Kochlivestreams zu einem Kulturgut geworden?