Corona-Verschwörungstheorien: Neuer Anlass, uralte Geschichten

QAnon im 15. Jahrhundert: Zeitgenössische Darstellung des angeblichen jüdischen Ritualmordes an dem Kind Simon von Trient im Jahr 1475.

QAnon im 15. Jahrhundert: Zeitgenössische Darstellung des angeblichen jüdischen Ritualmordes an dem Kind Simon von Trient im Jahr 1475.

Eine der wirren Thesen, die in Corona-Zeiten Hochkonjunktur haben, ist die QAnon-Verschwörung: Eine amerikanische Zweitregierung im Untergrund, die die Welt lenkt (“Deep State”) halte weltweit Hunderttausende Kinder unterirdisch fest, foltere und missbrauche sie. Aus dem Blut dieser Kinder werde Adrenochrom gewonnen, ein Stoffwechselprodukt des Adrenalin. Das wiederum tränken dann die Millionäre, um sich damit zu verjüngen. In der QAnon-Geschichte, die auf dem Verschwörungsforum “4chan” verbreitet wurde, sind gleich zwei historische Verschwörungstheorien respektive Vorurteile verborgen.

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Die QAnon-Verschwörung – verfolgbar bis ins römische Reich

Das erste ist tatsächlich in seinem Ursprung fast 2000 Jahre alt. Es wird von dem jüdischen Historiker Flavius Josephus (geboren um das Jahr 37 als Joseph ben Mathitjahu ha Kohen in Jerusalem) erwähnt. Josephus berichtet von dem griechischen Judenhasser Apion, der in Ägypten lebte und erzählt habe, Juden hätten jedes Jahr einen Griechen gekidnappt, ihn im Tempel in Jerusalem gefangen gehalten, gemästet und schließlich geopfert, ausgeweidet und verzehrt. All das, um ihren Gesetzen zu genügen. Die Geschichte, die Josephus erzählt, ist der Ursprung der ältesten Ritualmordlegende, die es in Bezug auf das Judentum gibt. Im Mittelalter wurde diese Legende dahingehend abgewandelt, dass Juden das Blut getaufter Christen-Kinder tränken, um selbst Kraft daraus zu ziehen. Der zweite, uralte Ansatz der QAnon-Verschwörung liegt in der Assoziation, dass sich Millionäre die Welt gestalten wie sie wollen und mit ihrem Geld alles kaufen können – eben auch Kinder, die unterirdisch gehalten werden, um später Blutopfer der Reichen zu werden.

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Die Assoziation reich gleich Jude ist auch ein uraltes antisemitisches Klischee: Da antisemitische Äußerungen in Deutschland und auch in vielen anderen Staaten strafbewehrt sind, nimmt man deshalb in der aktuellen Auslegung statt Jude das Wort Millionär. Die Botschaft dahinter ist aber dieselbe: Die Juden sind reich und lenken die Welt. Der Ursprung dieses Vorurteils, das Grundlage so mancher Verschwörungstheorie ist, liegt ebenfalls etliche Hundert Jahre zurück: Da Juden im Mittelalter der Zugang zu den Zünften verwehrt war, mussten sie andere Erwerbsquellen außerhalb der “ehrenhaften” Berufe wählen. Die im Christentum und im Islam moralisch verpönte Tätigkeit des Geldverleihers war das einzige neben niedrigen Tätigkeiten, was den Juden des Mittelalters als Lebensunterhalt übrig blieb. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Gleichsetzungen jüdischer Menschen mit Reichtum.

Bill Gates als Weltenherrscher

Sie funktionieren im Übrigen auch als Umkehrschluss bei Verschwörungstheoretikern. So hat auch eine andere, gerade höchst populäre, Variante der Corona-Verschwörungstheorie historische Wurzeln. Die Fiktion von der (jüdischen) Weltregierung. In der heutigen Variante ist es Bill Gates, der die Menschheit via Impfungen auf 500 Millionen reduzieren und dann als Weltenherrscher zu seinem Nutzen manipulieren möchte. Vor einigen Jahren hatte Gates, der viel Geld für die Bekämpfung von Pandemien und die Entwicklung von Impfstoffen gespendet hat, vor dem Ausbruch einer tödlichen Seuche mit etlichen Opfern gewarnt. Daraus resultiert jetzt die Annahme, er wolle sich die WHO untertan machen und mit einem Impfstoff die Anzahl der Menschen drastisch verringern.

Sucht man bei Google nach “Bill Gates Jude”, erhält man, Stand 15. Mai, 5.430.000 Einträge. Der Mann hat mit dem Judentum nichts zu tun – außer, so die krude Sicht der Verschwörungstheoretiker, einer der reichsten Männer zu sein – also zwangsläufig Jude. Wahlweise wird auch die Chiffre Rothschild dafür benutzt, um den jüdischen Welt-Einfluss zu illustrieren, wie das etwa kürzlich der Rapper Sido tat. Auch der Holocaust-Überlebende George Soros, der in der Aluhut-Szene und rechtsradikalen Blogs beschuldigt wird, die Biowaffe Corona entwickelt zu haben, und Israels Geheimdienst Mossad müssen als Synonym für die “jüdische Weltherrschaft” herhalten.

Der Irrglaube an diese sogenannte Weltherrschaft entstammt einem der größten Verschwörungs-Bestseller der jüngeren Geschichte: dem Buch "Die Protokolle der Weisen von Zion“. Entstanden ist die Hetzschrift im russischen Zarenreich vor rund 115 Jahren – als vorgebliche Abschrift des ersten zionistischen Weltkongresses 1897 in Basel. Auf diesem Kongress, so suggerieren es die Protokolle, sei es darum gegangen, einen konkreten Plan zur Errichtung der jüdischen Weltherrschaft zu entwerfen. Alles nachweislich grober Unfug und Stoff aus Kolportage-Romanen des 19. Jahrhunderts – aber bis heute eine unausrottbare Verschwörungs-Chiffre.

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Heute Corona, im Mittelalter die Pest

Der dritte Corona-Verschwörungshit ist verwoben mit dem Impf-Narrativ – nämlich die, dass Corona als Waffe gegen den Rest der Welt eingesetzt werde (siehe George Soros), um diese per Zwangs-Impfungen zu unterjochen beziehungsweise die Kontrolle über den Planeten zu gewinnen. Auch diese Geschichte fußt im Mittelalter. In den Jahren 1347 bis 1353 wütete in Europa die Pest. Ihr fielen rund ein Drittel der damaligen Bevölkerung des Kontinents zum Opfer – etwa 25 Millionen Menschen. Wie man heute weiß, wurde die Pest aus Asien eingeschleppt. Übertragen wurde sie durch verschiedene Floharten, wie etwa den Rattenfloh. Da es in Europas mittelalterlichen Städten keinerlei Hygiene gab und Ratten allgegenwärtig waren, verbreitete sich die Pest explosionsartig.

Schon während früherer Epidemien hatte man – in Ermangelung rationaler Erklärungen zum Ursprung von Masseninfektionen – die Juden beschuldigt, die Trinkwasserbrunnen vergiftet zu haben, um so die Herrschaft zu erlangen. Dieser Vorwurf kam zu Pestilenz-Zeiten wieder in Mode; mit dem Resultat, dass während der sogenannten Pest-Pogrome Tausende von Juden ermordet oder vertrieben wurden. Diese Pogrome wüteten, analog zur Pest, in ganz Europa – und führten teilweise dazu, dass die jüdische Bevölkerung in Großstädten wie Straßburg um mehr als die Hälfte durch Mord reduziert wurde. Das gipfelte in den Tragödien von Worms, Frankfurt und Mainz, wo sich im Jahr 1349 Hunderte jüdischer Bürger selbst umbrachten – teils, indem sie ihre eigenen Häuser anzündeten und darin verbrannten. Nach dem Ende der Pest gab es in Deutschland und den Niederlanden kaum noch Juden.

Jahrhunderte alte Geschichten haben sich bis heute gehalten

Was sich aber gehalten hat, das sind diese uralten Ritualmord-Legenden und Verschwörungstheorien – bloß, dass sie heute nicht mehr von einem fahrenden Sänger oder Stadtschreiber verbreitet werden, sondern durch die Massenmultiplikation solcher Plattformen wie “Telegram”, “Reddit”, “Facebook” etc. auch Eingang in die Argumentation sogenannt normaler Bürger finden.

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Eine ganz besondere Variante postmoderner Auslegung des Ritualmord-Narrativs übrigens stammt nicht aus Corona-Tagen, sondern aus dem Jahr 2009. Damals warf der Schwede Donald Boström Israel unter der Überschrift “Unsere Söhne werden ihrer Organe beraubt” vor, dass dessen Soldaten Palästinenser umbrächten, um deren Organe für Reiche zu “ernten”, die ihrerseits auf eine Organspende warteten und 160.000 Dollar für eine Niere bezahlten. Allerdings erschien die frei erfundene Story nicht auf einer der gängigen Verschwörungsplattformen, sondern im Feuilleton der linken schwedischen Zeitung “Aftonbladet”. Auch manche Medien können sich also zum Verbreiter uralter Verschwörungstheorien hergeben.

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