Immer mehr Menschen suchen die Nähe zur Natur
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Zurück zu den Wurzeln: Der Mensch hat in seiner Entstehungsgeschichte mehr als 99,99 Prozent in einer natürlichen Umgebung gelebt – entsprechend ist er an die Natur angepasst.
© Quelle: iStockphoto
Augsburg. Bikini und Badelatschen? Nicht nötig. Wer zum Waldbaden geht, springt in keinen Tümpel, sondern taucht mit meditativen Übungen tief ein in die Natur. So haben sich die Frauen, die sich in Horgau im Landkreis Augsburg auf den Weg machen, bloß Isomatten unter den Arm geklemmt. Die meisten von ihnen nehmen zum ersten Mal ein Bad im Wald: Um sich zeigen zu lassen, wie diese neue Methode des Naturerlebens abläuft, haben sie bei der Heilpraktikerin Henrika Vogt einen VHS-Kurs gebucht.
Das Waldbaden und ähnliche Angebote in der Natur erleben derzeit einen ungeahnten Boom in Deutschland. Von Nord bis Süd werden Kurse, Seminare und Fortbildungen zu Themen dieser Art angeboten. Und auf Usedom wurde im vergangenen September der erste Kur- und Heilwald eröffnet. "Aus der Erholungsforschung weiß man schon lange, dass uns Wald guttut", sagt Lena Friedmann von der Technischen Universität München, die im Rahmen eines Projekts den therapeutischen Beitrag von Wäldern zur menschlichen Gesundheit erforscht.
„Einen medizinischen Beweis hatte man dafür aber bisher nicht. Inzwischen gibt es aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen Ergebnisse, die das Gefühl der Waldbesucher bestätigen.“ Tatsächlich belegen mehrere Studien: Spaziergänge und meditative Aufenthalte im Wald wirken entspannend, senken den Blutdruck, verringern die Ausschüttung von Stresshormonen und aktivieren das Immunsystem. Kommt hinzu, dass der Zeitgeist geprägt ist von einem Bedürfnis nach gesundem Lifestyle und mehr Naturnähe. „Da bietet der Wald einen Raum, sich ohne urbanen Stress oder Druck auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich mit der Natur zu verbinden“, meint Friedmann.
Ruhe und Gelassenheit
Ein breiter Weg führt den Hang hinauf, der Wald ist in Sichtweite. „Bäume geben uns die Ruhe und Gelassenheit, nach der wir uns im Alltag oft sehnen“, sagt Henrika Vogt zur Einstimmung. „Im Wald zu sein ist ein Stück weit wie nach Hause kommen. Wir spüren, dass wir Teil eines großen Systems sind.“ Weiter geht es in Richtung Fichten. Es ist leise geworden. Nur noch der Schotter, der unter den Schuhen knirscht, ist zu hören. In einem lichten Waldabschnitt mit jungen Buchen soll sich jede Teilnehmerin eine Stelle suchen, die sie als angenehm empfindet.
Es folgen sanfte Dehnungs- und Atemübungen, erst stehend, dann auf der Matte liegend. Wie ungewohnt ist es, Bäume von unten zu betrachten! Sonnenstrahlen brechen sich in den Baumkronen. Vom Himmel sind ein paar winzige, bläuliche Flecken zu sehen. Die Blätter werden angestrahlt und erscheinen in unterschiedlichen Grüntönen. Jetzt heißt es: Augen schließen. Das Gezwitscher der Vögel wirkt auf einmal laut. Die Erde riecht würzig. Dazu Henrika Vogts ruhige Stimme: „Wir atmen ein und aus, halten beim Wiedereinatmen die Waldluft für einen Moment in uns zurück.“ Alles gerät in Vergessenheit. „Mit einem Seufzer lassen wir alle schweren Dinge aus uns herausströmen.“
Trend mit japanischen Wurzeln
Geprägt wurde der Begriff Waldbaden in Japan, wo man seit den 1980er-Jahren „Shinrin Yoku“ praktiziert. Heute gibt es dort mehr als 60 Waldtherapiezentren, spezielle Therapiewege und einen universitären Forschungszweig für Waldmedizin. Warum ausgerechnet im dicht besiedelten Japan? Jenseits der großen Städte ist das Land stark bewaldet. Abgesehen davon hat die Verehrung von Bäumen dort eine lange Tradition. Sie stehen, schreibt Yoshifumi Miyazaki in seinem Buch „Shinrin Yoku“, für den Einklang des Menschen mit der Natur. Der Autor, heute Professor für Umwelt, Gesundheit und Feldforschung an der Universität Chiba, ist einer der Pioniere des Waldbadens. Als Kind staunte er darüber, wie entspannt er war, wenn er dem Vater bei der Gartenarbeit half. Das erklärte er sich mit der heilsamen Wirkung von Blumen und Bäumen, die er viele Jahre später wissenschaftlich untersuchte.
Der Mensch, meint Miyazaki, habe sich in jüngster Zeit immer weiter von der Natur entfremdet. Evolutionsgeschichtlich betrachtet, sind Städte nämlich recht neu. "Der Mensch hat mehr als 99,99 Prozent seiner Zeit in einer natürlichen Umgebung verbracht. Er ist in seinen physiologischen Funktionen also an die Natur angepasst", schreibt er. "Kommen wir in Kontakt mit der Natur, mit Wäldern, Parks oder Blumen, sind wir entspannt."
Im Rahmen eines zwölf Jahre dauernden Projekts schickte Miyazaki Hunderte von Studenten in Wälder und Städte, um miteinander zu vergleichen, wie sich die Umgebung auswirkte. In der Tat zeigte sich, dass die Probanden nach einem Waldspaziergang entspannter waren, zum Beispiel einen niedrigeren Blutdruck, eine verringerte Pulsfrequenz sowie niedrigere Konzentrationen des Stresshormons Cortisol aufwiesen.
Dabei spielt nicht nur die Ruhe eine Rolle, sondern auch die Zusammensetzung der Waldluft. Wissenschaftler um den Umweltimmunologen Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio maßen bei Versuchspersonen nach Waldspaziergängen mehr natürliche Killerzellen, die für die Regulierung des Immunsystems verantwortlich sind. Das erklärten sie damit, dass die Spaziergänger Phytonzide eingeatmet hatten – Stoffe, die von Pflanzen gebildet werden, um sich vor Bakterien zu schützen.
Anhalten und wahrnehmen
Inzwischen haben sich die Frauen aufgesetzt und betrachten kleine Gegenstände, die sie am Boden gefunden haben. Aufmerksam soll man sie wahrnehmen, ihre Form, die Farben, den Geruch. Auch wenn sie noch so unauffällig wirken, sind sie doch „Teil des Lebens – so wie wir“, sagt Henrika Vogt.
Es ist wieder still. Behutsam stimmt Vogt die Teilnehmerinnen auf weitere Wahrnehmungsübungen ein: sich an einen Baumstamm lehnen und seine Kraft spüren. Barfuß über den Waldboden laufen. „Aber niemand muss das machen!“, betont sie. Doch fast alle ziehen sich Schuhe und Strümpfe aus. Wer hätte gedacht, dass sich der blätterbedeckte Boden so weich anfühlt!
Im Grunde genommen, meint die Heilpraktikerin, kann man auch auf eigene Faust zum Waldbaden gehen. „Anhalten und etwas wahrnehmen, darauf kommt es an“, betont sie. Wer danach wieder im Alltagsstress gefangen ist, kann immerhin versuchen, sich die Sinneseindrücke ins Gedächtnis zu rufen. Oder man beruhigt sich mit Bildern: Vogt schaut sich auf ihrem Laptop gerne selbst aufgezeichnete Waldvideos an. Sogar das wirkt.
Von Angela Stoll