Interview mit einer Grundschullehrerin: Viele Kinder können sich nicht mehr an Regeln halten

“Als ich anfing vor 15 Jahren, lief der Unterricht reibungsloser, da ruhten die Kinder irgendwie in sich und konnten sich auf den Unterricht konzentrieren”, erinnert sich Grundschullehrerin Juli, (Symbolbild)

“Als ich anfing vor 15 Jahren, lief der Unterricht reibungsloser, da ruhten die Kinder irgendwie in sich und konnten sich auf den Unterricht konzentrieren”, erinnert sich Grundschullehrerin Juli, (Symbolbild)

Seit 15 Jahren arbeitet Lehrerin “Juli”, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, an einer Grundschule. In diesen Jahren hat sich viel geändert: Ganztagsschulkonzepte, zunehmender Medienkonsum und überfüllte Klassenräume. Es sei zwar noch immer ihr Traumberuf, doch manchmal komme sie an ihre Grenzen.

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Juli, Sie sind seit 15 Jahren Grundschullehrerin. Warum haben Sie diesen Beruf ergriffen und wie kann man sich die Grundschule an der Sie arbeiten vorstellen?

Ich arbeite an einer Grundschule im wohlhabenden Speckgürtel einer deutschen Großstadt, wir haben circa 250 Schüler und sind eher dörflich hier. Unsere Schülerschaft hat nur einen sehr geringen Anteil nicht-deutscher Kinder, selbstverständlich unterrichten wir auch Inklusionskinder. Ich bin Grundschullehrerin geworden, weil ich schon immer viel Freude im Umgang mit Kindern hatte, ich war eine beliebte Babysitterin und Nachhilfelehrerin während meiner eigenen Schulzeit. Außerdem bin ich immer sehr gerne zur Schule gegangen und habe gern gelernt. Schule war also für mich immer positiv besetzt.

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Sie unterrichten gerade eine erste Klasse. Wir hören von vielen Kindern, die bereits in der ersten Klasse unter enormen Druck stehen. Sehen Sie das auch so?

Druck ist ja immer relativ. Was der eine als Druck empfindet, sieht der andere als angemessene Belastung. Wenn Hausaufgaben und Lesen üben schon als Druck empfunden werden, ja, dann kommt auch Druck von mir oder der Schule. Ich halte das aber für normale Anforderungen im Rahmen der Schule.

Was für mich Druck ist, wenn Eltern sagen: “Wenn du im Test null Fehler schaffst, kriegst du 5 Euro.” Das fängt zum Teil schon in der ersten Klasse an, und ich finde dieses “Bezahlen für Leistung” ganz furchtbar in der Grundschule. Ich sage den Eltern immer, dass ihre Kinder ihr Bestes geben und niemand mit Absicht Fehler macht. Unter den Kindern entsteht dann oft auch Druck, weil man ja auf keinen Fall schlechter sein will als der andere und weil man die 5 Euro oder das neue Playstation-Spiel eben unbedingt haben will. Da hab ich schon viele Tränen fließen sehen.

Als ich anfing vor 15 Jahren, lief der Unterricht reibungsloser, da ruhten die Kinder irgendwie in sich und konnten sich auf den Unterricht konzentrieren. Heute bringen viele Kinder eine “Grundunruhe” mit.

Grundschullehrerin Juli

Sie begleiten seit 15 Jahren Kinder – wie haben sich die Kinder in dieser Zeit verändert?

Die Kinder kreisen viel mehr um sich selbst und sehen sich oft nicht als Teil einer Gemeinschaft. Der eigene Vorteil ist wichtig, wie es anderen geht, interessiert viele nicht mehr. Es gibt auch immer mehr Kinder, die “grenzenlos” sind, sie können sich ganz schwer an Regeln halten und sich dementsprechend auch ganz schwer in eine Klassengemeinschaft integrieren.

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Mal abwarten, wenn die Lehrerin gerade mit einem anderen Kind beschäftigt ist, das fällt manchen Kindern schwer. Ich vermute, dass da im Elternhaus auch zu wenig Grenzen gesetzt werden. Die Kinder erwarten eine prompte Bedienung und Wunscherfüllung. Und wenn das nicht sofort klappt, ist der Frust groß und kann nur schlecht ausgehalten werden. Im schlimmsten Fall flippt man dann völlig aus, weil man beim Klassenspiel nicht gewonnen hat oder nicht dran genommen wurde von der Lehrerin.

Die Kinder kreisen viel mehr um sich selbst und sehen sich oft nicht als Teil einer Gemeinschaft. Der eigene Vorteil ist wichtig, wie es anderen geht, interessiert viele nicht mehr.

Und wie haben sich die Eltern verändert?

Ich führe viel mehr Elterngespräche als noch zu Anfang meiner Dienstzeit, einfach weil mehr Schwierigkeiten auftauchen und Redebarf besteht. Meistens kommunizieren wir gut miteinander und suchen Lösungen im Sinne des Kindes. Es kommt aber auch vor, dass Eltern das Verhalten ihres Kindes in der Schule schlicht leugnen mit Aussagen wie “So etwa macht er zu Hause nie, das kann ich mir nicht vorstellen” und ihr Kind für alles in Schutz nehmen.

Ich habe mal ein Kind abholen lassen, weil es wie wild auf dem Schulhof auf andere eingeschlagen hat. Die Mama kommt und das Erste, was sie zu ihrem Kind sagt, ist: “Ach Schnuppi, was ist denn mit dir?” und nimmt das Kind vor mir beschützend in den Arm. In meinem Einzugsgebiet kommt es auch nicht selten vor, dass Eltern anrufen, weil es eben nur eine vier in der Arbeit gab, und die Eltern nicht zufrieden damit sind. Das Kind kann mit der vier gut leben, die Eltern aber nicht, weil sie die Gymnasialempfehlung in Gefahr sehen.

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Wie unterschiedlich sind heute die Herausforderungen im Vergleich zu früher?

Oben habe ich ja schon beschrieben, dass die “Egoisten” eine große Herausforderung sind. Im schlimmsten Fall hindern sie mich daran, zu unterrichten, weil ich mich um die Belange Einzelner kümmern muss und immer wieder Konflikte auftauchen, die geklärt werden müssen.

Als ich anfing vor 15 Jahren, lief der Unterricht reibungsloser, da ruhten die Kinder irgendwie in sich und konnten sich auf den Unterricht konzentrieren. Heute bringen viele Kinder eine “Grundunruhe” mit, und ich habe schon oft drüber nachgedacht, ob es mit den digitalen Medien zu tun hat, die Kinder vor 15 Jahren einfach nicht zur Verfügung hatten.

Viele Kinder passen heute nicht mehr ins normale Schulsystem. Ist unser System einfach überholt oder liegt es an der Erziehung der Eltern?

Interessante Frage! Wenn man meine Punkte bedenkt, die ich oben genannt habe, müsste man schon sagen, dass das System Schule, in dem ich arbeite, nicht mehr für manche Kinder passt. Aber bei den Kindern sehe ich meistens die Erziehungsfehler im Elternhaus, da hätte ich Bauchschmerzen, wenn wir das System ändern und die Erziehung jetzt als passende Grundlage hinnehmen.

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Ich glaube, Erziehung wird für Eltern immer schwieriger, weil es so viele verschiedene Erziehungsstile gibt und ständig neue Impulse kommen, die ja auch durch soziale Medien sofort verfügbar sind. Viele Eltern sind sicher zu Recht verunsichert, was denn nun der richtige Weg in der Erziehung ist. Den einen richtigen Weg gibt es ja sowieso nicht, aber Verbindlichkeit und Konsequenz sind für mich Grundpfeiler, die manchen Eltern schon schwer fallen.

Ich finde, dass mehr als 20 Kinder in einer ersten Klasse zu viel sind, um allen gerecht zu werden, das ist echt schade und unbefriedigend.

Grundschullehrerin Juli

Gibt es Tage oder Situationen, die Sie aktuell an Ihre Grenzen bringen?

Meine Erstklässler sind noch sehr wuselig. Wenn 25 gleichzeitig etwas wollen, bringt mich das an meine Grenzen. Ich bin dann auch unzufrieden mit mir, weil ich nicht allen gerecht werde und nur “Brände” lösche, zum Beispiel wenn zwei sich prügeln, einer stolpert und zwei Flaschen umkippen – alles im selben Moment. Ich komme noch nicht dazu, mich in Ruhe zu manchen Kindern dazuzusetzen, um ihnen mal fünf Minuten beim Lesen zu helfen. Das strengt mich an. Ich finde, dass mehr als 20 Kinder in einer ersten Klasse zu viel sind, um allen gerecht zu werden, das ist echt schade und unbefriedigend.

Wie bewerten Sie die aktuelle Betreuungssituation von Schülern?

Die Mehrheit der Kinder geht nachmittags in den Hort, einige jeden Tag bis 17 Uhr. Das ist länger als manch ein Arbeitstag von Erwachsenen. Für Lesen-üben – was die Hortbetreuer verständlicherweise nicht leisten können –, Vorlesen oder einfach vom Tag erzählen bleibt da wenig Zeit. Das sehe ich dann auch in den schulischen Leistungen.

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Ich weiß, dass manche Eltern finanziell darauf angewiesen sind, so zu arbeiten und die Kinder deshalb so lange in den Hort müssen. Aber bei bei manchen Eltern frage ich mich, warum habt ihr Kinder bekommen, wenn ihr sie die ganze Woche komplett fremdbetreuen lasst, um so viel Geld zu verdienen, weil die vier Urlaube im Jahr finanziert werden müssen.

Eigentlich ist die Zeit, in der die Kinder ihre Eltern brauchen, gar nicht so lang, warum kann man da beruflich und finanziell nicht etwas kürzertreten zugunsten des Kindes? Wenn sie auf die weiterführende Schule gehen, brauchen sie uns nicht mehr so in dem Maße wie im Kindergarten- und Grundschulalter, dann kann man doch wieder mehr arbeiten.

Es herrscht akuter Lehrermangel – woran liegt das?

Das frage ich mich auch, denn nach wie vor ist es ja ein toller Beruf! Ich glaube, dass jahrelange Fehlplanungen in den Ministerien Schuld sind. Es gibt jedenfalls genügend Leute, die Lehrer werden möchten.

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Hausaufgaben sind das Reizthema in vielen Familien – wie stehen Sie dazu und haben Sie Tipps, wie man gelassen damit umgeht?

Regelmäßigkeit und gleichbleibende Abläufe könnten schon hilfreich sein. Meine Schüler bekommen vom ersten Tag an Hausaufgaben und zwar täglich, sodass sie dran gewöhnt sind. Hausaufgaben sind wie Zähneputzen – es muss halt sein. Eltern sollten die Kinder so gut es geht alleine machen lassen, und wenn es zuviel wird oder nur im Streit abläuft, mit der Lehrkraft mal sprechen. Für uns Lehrer ist es eine wichtige Rückmeldung, wenn etwas nicht gut läuft.

Eigentlich ist die Zeit, in der die Kinder ihre Eltern brauchen, gar nicht so lang, warum kann man da beruflich und finanziell nicht etwas kürzertreten zugunsten des Kindes?

Wenn Sie etwas an Ihrem Beruf ändern könnten – was wäre das?

Wenn ich nur einen Wunsch frei hätte, wären es kleinere Klassen, am besten mit maximal 20 Kindern. In meinem Bundesland würde ich die Vorschule wieder einführen, um einen Übergang zwischen Kita und Schule zu schaffen und für die Kinder den Sprung ins ganz kalte Wasser abzumildern.

Gibt es noch etwas, was Ihnen zu dem Thema wichtig ist?

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Lehrer sein ist für mich immer noch ein spannender Beruf, der mir immer wieder Freude macht.

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