mRNA-Entdeckung: Wem gebührt der Preis?
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Am Anfang war ein Labor in Kalifornien: Robert Malone (Zweiter von links) entdeckte Ende der Achtzigerjahre die Basis für die Entwicklung der mRNA-Impfstoffe.
© Quelle: Privat
Hannover. Die Gelassenheit, die Robert Malone bei diesem Videointerview an einem Junivormittag amerikanischer Ostküstenzeit ausstrahlt: Sie ist ganz sicher trügerisch. Mit seinem grauen, dichten Vollbart, den schmalen Augen und der festen Stimme wirkt der 61-Jährige wie jemand, der nur durch wenig zu erschüttern ist. Doch die Geschichte, die er dann in seinem Haus in Madison, Virginia, erzählt, handelt von Schmerz und Enttäuschung. „Es fühlt sich an“, sagt er, „wie eine Vergewaltigung.“
Was Malone meint, ist das Gefühl, etwas entdeckt und beschrieben zu haben – vielleicht als Erster oder jedenfalls als einer der Ersten – und dann zu sehen, wie andere, die später kamen und darauf aufbauten, gefeiert und gerühmt werden. „Und das ist schon schmerzhaft.“
Robert Malone hat sich zu radikaler Offenheit entschlossen, auch in Bezug auf sich selbst. Eine Art selbsttherapeutischer Ehrlichkeit, als Folge großer Verletztheit, so wirkt es.
Der Beweis der Machbarkeit
Die Geschichte, um die es ihm geht, liegt mehr als 30 Jahre zurück. Ende der Achtziger ist Malone ein junger, brennend ehrgeiziger Wissenschaftler, Doktorand am Salk Institute in Kalifornien, einer von Jonas Salk, dem Entwickler des Polioimpfstoffs, gegründeten Forschungseinrichtung. Wie viele Forscher dieser Zeit ist er beseelt vom Glauben an die Gentherapie, an die Möglichkeit, mittels Eingriffen in das Erbgut die großen Krankheiten der Menschheit zu besiegen. Im Jahr 1989 ist er Mitautor und treibende Kraft eines wissenschaftlichen Artikels, in dem beschrieben wird, wie in Fettkügelchen verpackte Boten-RNA kultivierte Zellen dazu bringt, bestimmte Proteine herzustellen.
Es ist die erste wissenschaftliche Beschreibung der Grundzüge jener Technik, die heute dabei ist, unzählige Leben zu retten und der Menschheit einen Ausweg aus der Pandemie zu weisen: der mRNA-Impfstoffe. Ein „proof of principle“, wie es in der Wissenschaft heißt: der Beweis der Machbarkeit.
Malone ist außerhalb der Spezialistenwelt unbekannt
„Robert Malone hat als Erster dieses Prinzip beschrieben und damit die Basis für die Entwicklung der mRNA-Impfstoffe beschrieben“, sagt der Immunologe Jan Dörrie, Spezialist für RNA-basierte Immuntherapie am Universitätsklinikum Erlangen. Und doch ist Robert Malone außerhalb der wissenschaftlichen Spezialistenwelt kaum jemandem bekannt.
Kann das gerecht sein? Und wem gebührt der Ruhm für diese Technik, die womöglich gerade die Welt erlöst? Oder zumindest den Teil der Welt, der sich diese Form der Erlösung leisten kann?
Nobelpreis ist zum Greifen nahe
Knapp eineinhalb Jahre nach dem Beginn der Pandemie ist der Kampf um den Ruhm jedenfalls in vollem Gange. Ein Kampf, in dem es um Geld, Anerkennung und Preise geht. Klar scheint im Juni 2021, dass es speziell die mRNA-Impfstoffe sind, die den größten Beitrag dazu leisten, dem Coronavirus seinen Schrecken zu nehmen.
Sie alle beruhen auf demselben Prinzip: Sie enthalten eine Boten-RNA, also den Bauplan für bestimmte Virusfragmente, gegen die der Körper dann Antikörper bildet. Die Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna beruhen darauf. Diese Mittel sind allen Studien zufolge hochwirksam, rasch in großen Mengen herzustellen und obendrein leicht auf neue Mutanten anpassbar – lauter Vorteile, die vor der Verkündung im Oktober auch das Nobelpreiskomitee beschäftigen dürften. Selten lag das Thema der Auszeichnung so nah wie in diesem Jahr.
Nur: Wer hat den großen Preis verdient? Und funktioniert Wissenschaft heute tatsächlich noch so, dass sich am Ende ein oder maximal drei Köpfe feiern lassen können? Ist Wissenschaft noch so sehr Einzelgängertum?
Katalin Karikó gilt in den USA als Erfinderin
In den USA gibt es darauf bereits eine Antwort. Dort gilt Katalin Karikó als „Mutter der mRNA-Vakzine“. Die Ungarin siedelte 1985 mit ihrer Familie in die USA über, forschte seit den frühen Neunzigerjahren an mRNA – und beschrieb 2008 mit ihrem Kollegen Drew Weissman eine Modifikation, dank der die mRNA die Immunabwehr der Zellen unterläuft und nicht so rasch zerstört wird.
Karikó verkaufte für die Auswanderung in die USA ihr Auto, das Ersparte versteckten sie und ihr Mann im Teddy ihrer zweijährigen Tochter – so erzählte sie es dem „Guardian“. Es ist eine Aufsteigergeschichte im Stil des amerikanischen Traums, den die 66-Jährige verkörpert. Karikó forscht an der University of Pennsylvania. Die Mainzer Firma Biontech des deutsch-türkischen Impfstoffentwicklers Ugur Sahin hat sich ihre Dienste gesichert, dort hat sie eine Stelle als Vizepräsidentin inne.
Karikó erkennt Verdienst der Kollegen an
Bei Fernsehinterviews, wie zuletzt bei CNN, wirkt Karikó so, als würde sie sich lieber sofort wieder in ihr Labor zurückziehen und weiterforschen. Bei der Nobelpreisvergabe aber kann sie auf wichtige Fürsprecher zählen. Wenn man ihn irgendwann frage, erklärte Derek Rossi, Mitgründer des Pharmakonzerns Moderna, „würde ich sie ganz nach vorne in die Mitte stellen“.
Dorthin, in die erste Reihe, gehört sie nach Meinung vieler Forscherkolleginnen und -kollegen auch. Nur eben nicht allein. Das sieht sie auch selbst so. „Ich habe“, schreibt sie Anfang Juni in einer Mail an Robert Malone, „viele Reporter zu dir, zu Ingmar (Hoerr, Mitgründer von Curevac), zu Ugur Sahin (Mitgründer von Biontech), Stephane Bancel (Moderna) und all den anderen Wissenschaftlern auf diesem Gebiet geschickt.“
Ihr Hinweis erzählt von dem redlichen Versuch, auf die komplizierte und lange Entstehungsgeschichte der mRNA-Impfstoffe hinzuweisen. Es ist ein Versuch, von dem nicht klar ist, ob ihn jeder stets mit gleicher Verve unternimmt.
Ein historischer Irrtum
„Der Mann, der das Impfen neu erfand“, lautet der eher unbescheidene Titel einer Biografie über den Curevac-Mitgründer Ingmar Hoerr, die gerade im Aufbau-Verlag erschienen ist. Erzählt wird darin die durchaus tragische Geschichte Hoerrs: Im März 2020, zu Beginn der Pandemie, erlitt er einen Gehirnschlag und fiel wochenlang ins Koma. Anschließend musste er sich regelrecht ins Leben zurückkämpfen – und später miterleben, wie Curevac das Rennen um den ersten Impfstoff weit abgeschlagen verlor. Bis heute hat das Tübinger Unternehmen nicht alle Daten für die Zulassung zusammen.
Hoerrs wissenschaftliche Leistungen sind über jeden Zweifel erhaben. Auch er ist ein Nobelpreiskandidat. Er hat die mRNA, deren rascher Zerfall bis dahin als das Hauptproblem galt, stabilisieren können, gemeinsam mit anderen Tübinger Forschern die ersten Menschen mit mRNA geimpft, ein Unternehmen gegründet und die Grundlagen für die Massenproduktion gelegt.
Der Ausgangspunkt war für ihn Ende der Neunzigerjahre eine zentrale Erkenntnis: Dass sich in Mäusen mittels mRNA eine Immunreaktion erzeugen lässt, ursprünglich ein Zufallsfund. „Da wurde mir klar, dass ich ein grundlegendes Prinzip entdeckt hatte: Man kann mit mRNA impfen“, sagte Hoerr im Mai der „Zeit“.
Vorangegangene Grundlagen als Basis
Aber war er wirklich der Erste? Ihm sei damals „klar geworden, dass es einen praktikablen Weg gibt, RNA auch tatsächlich als Impfstoff am Menschen zu nutzen“, erläutert Hoerr heute auf Nachfrage.
Seine Entdeckung sei „selbstredend in den Kontext des damaligen Stands der Wissenschaft eingebettet“ gewesen. Andere hätten wichtige wissenschaftliche Grundlagen geliefert, ohne die auch seine Arbeiten „in dieser Form nicht möglich gewesen wären“, Hoerr nennt dabei unter anderem auch Robert Malone. Bei den Forscherinnen und Forschern vor ihm sei es jedoch nicht um die Anwendung am Menschen gegangen, sondern eben um Grundlagenforschung.
Ein weiterer Pionier: Peter Liljeström
Doch auf diesem Feld waren andere eben auch schon sehr weit gekommen – die Franzosen Pierre Meulien und Frédéric Martinon etwa, aber auch Peter Liljeström. 1994 beschrieb der Wissenschaftler vom Karolinska Institut in Stockholm, wie er Mäuse auf diese Art gegen Influenza impfte und eine starke, anhaltende Immunreaktion beobachtete. Und wer den mittlerweile 68-Jährigen anruft, der mehr als 16 Jahre lang Chef der Impfabteilung der schwedischen Seuchenbehörde war, erfährt, dass die eigentlichen Versuche noch deutlich früher stattfanden. „1988“, sagt Liljeström. Ursprünglich habe er gar nicht vorgehabt, die Ergebnisse überhaupt zu publizieren – und es erst getan, als er das wachsende Interesse an dem Thema wahrnahm.
Von Bitternis scheint Liljeström dennoch frei. „Ich freue mich sehr, dass die mRNA-Impfstoffe heute so erfolgreich im Einsatz sind“, sagt er. „Und dass wir einen Beitrag dazu leisten konnten.“ Auch er habe damals versucht, diese Technik weiterzuentwickeln, doch er fand keine Geldgeber. Die Industrie winkte ab. „mRNA galt als zu riskant“, sagt Liljeström. Zu instabil, zu unzuverlässig, nichts für die Zukunft. Ein historischer Irrtum.
Gegen alle Widerstände
Die Frage, wer der oder die Erste war, sei kaum mehr zu klären. „Damals forschten eine Menge Leute parallel an dem Thema, uns haben die gleichen Fragen umgetrieben“, sagt Liljeström. Was sie damals beschrieben, sei das Prinzip jener Impfungen gewesen, die heute eingesetzt werden. „Aber wir waren wohl einfach zu früh.“
Aber wem gebührt nun der Ruhm für diese Impfstoffe? Denjenigen, die die ursprüngliche Idee hatten? Oder denen, die diese Idee gegen alle Widerstände bis zum Ende weiterverfolgten, die die Produktion der Impfstoffe letztlich ermöglichten? Die sie optimierten für den Einsatz im Menschen?
Andreas Radbruch, Immunologe und wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheumaforschungszentrums Berlin, zählt die Arbeiten Hoerrs, Karikós sowie des Biontech-Gründers Sahin zu den entscheidenden Schritten – und die von Peter Liljeström. Wer einen Nobelpreis tatsächlich erhalte, sei schwer zu sagen – „aber fairerweise müsste Liljeström dabei sein“.
„Auf keinen Fall wäre es angemessen, die Entwicklung von jenen zu trennen, die die ursprünglichen Anstöße gegeben haben“, sagt auch der Erlanger Immunologe Dörrie.
Die Suche nach Ursprüngen scheint unendlich
„35 Jahre, Hunderte von Wissenschaftlern, unzählige Firmen, und Milliarden von Dollar haben zu der heutigen mRNA-Impfung geführt“, sagt Philip Felgner, Direktor des Impfstoffzentrums an der University of California Irvine. „Der Dank kann großräumig verteilt werden.“ Wobei er den Ursprung der Forschung im Jahr 1984 ausmacht – dem Jahr, als an seinem Labor im Syntex-Institut in Palo Alto jene Nanopartikel entdeckt wurden, in denen Gene in Zellen eingeschleust werden können. Eine Technik, die auch die heutigen Impfstoffe nutzen.
Es ist, als würde, wer nach den Ursprüngen der Impfstoffe fragt, kaum je an ein Ende kommen, als gäbe es immer noch eine weitere Spur.
Zu den Regeln des Nobelpreises zählt es, dass höchstens drei Wissenschaftler pro Kategorie ausgezeichnet werden dürfen. Das könnte in diesem Fall ein großes Problem werden, vielleicht auch ein Hindernis bei dem Versuch, den Preis überhaupt für diese Entdeckung zu vergeben.
Malone will eine faire Würdigung
Robert Malone, der Autor des ersten Artikels, hat übrigens später nie wieder zu dem Thema gearbeitet. Er wechselte damals an ein anderes Institut – und schied dort wegen persönlicher Differenzen nach drei Monaten wieder aus. Die Patente jedoch verblieben bei dem Institut, das diese dann weiterverkaufte, ohne dass jemand sie weiterverfolgt hätte.
Malone hat weiter als Wissenschaftler und Berater gearbeitet, an anderen Themen. Geblieben ist aber seine Empfindlichkeit, falls jemandes Beitrag zu diesen Impfstoffen unterschlagen wird. Auch seine Forschungen seien nur dank anderer Vorläufer möglich gewesen, betont er. Es gehe ihm nicht um sich, sondern um eine faire Würdigung. „Wir stehen alle auf den Schultern von Giganten“, sagt er, in Abwandlung eines alten Newton-Zitats. Im Fall der mRNA-Impfstoffe scheint das besonders zu gelten.