Ohne Therapie: Wieso können manche Menschen HIV in Schach halten?
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Eine Infektion mit dem HI-Virus ist längst kein Todesurteil mehr - die Krankheit lässt sich mit Medikamenten eindämmen.
© Quelle: dpa
Als in den frühen 1980er Jahren erste Berichte über die Immunschwäche-Krankheit Aids auftauchen, macht sich Panik breit. Nachdem die Erkrankung zunächst bei homosexuellen Männern festgestellt wird, wird bald klar: Sie kann jeden treffen - Männer, Frauen, Heterosexuelle genauso wie Homosexuelle - selbst Kinder bleiben nicht verschont. Als schließlich das HI-Virus identifiziert wird, das die Krankheit hervorruft, wächst die Hoffnung, bald ein Mittel gegen die verheerende Seuche entwickeln zu können. Doch es wird noch viele Jahre dauern, bis eine wirkungsvolle Behandlung zur Verfügung steht, eine Impfung gegen das Virus gibt es bis heute nicht.
Wenige Infizierte müssen keine Medikamente einnehmen
Rund 38 Millionen Menschen weltweit leben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO derzeit mit HIV, etwa 33 Millionen Menschen sind bisher an dem Virus gestorben. Dank der antiretroviralen Therapie (ART) können die meisten Menschen mittlerweile gut mit der Erkrankung leben - allerdings müssen sie ein Leben lang Medikamente einnehmen. Einigen wenigen Infizierten jedoch bleibt auch das erspart: Bei weniger als 0,5 Prozent der HIV-Positiven lässt sich das Virus mit herkömmlichen Tests im Blut nicht nachweisen, obwohl sie sich nachweislich infiziert haben. Ihr Immunsystem scheint das Virus in Schach zu halten, Medikamente benötigen sie meist nicht.
Was diese sogenannten “Elite Controller” von anderen Infizierten unterscheidet, ist nicht abschließend geklärt. Einer Vermutung zufolge sind genetische Unterschiede zwischen Infizierten dafür verantwortlich. Die Unterschiede betreffen vor allem Gene, die für die Funktion des Immunsystems wesentlich sind, sogenannte HLA Klasse-1-Gene. “Man geht zum Beispiel davon aus, dass es bestimmte protektive HLA-Typen gibt, die eine sehr effektive Antwort der zytotoxischen T-Zellen auf die Virus-infizierten Zellen hervorrufen”, erläutert Maximilian Münchhoff vom Nationalen Referenzzentrum für Retroviren am Max von Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). “Allerdings werden wohl mehrere Mechanismen für die außergewöhnlich gute Kontrolle der Infektion verantwortlich sein.”
HI-Virus “schläft” in versteckten Bereichen
US-Forscher liefern nun eine weitere Erklärung für das seltene Phänomen: Ihren Studien zufolge “schläft” das Virus in versteckten Bereichen des Erbguts und wird dort kaum vermehrt. Das führt dazu, dass es im Blut nicht nachweisbar ist und die Menschen auch ohne Therapie nicht an Aids erkranken. Die Wissenschaftler stellen ihre Ergebnisse im Fachmagazin “Nature” vor. Sie hoffen, dass ihre Untersuchung Hinweise darauf gibt, wie man auch bei anderen Infizierten die Viren quasi zum Schlafen bringen kann. “Das ist eine wirklich spannende Untersuchung, deren Ergebnisse als weiterer Puzzlestein gut zu den bisherigen Erkenntnissen passen”, sagt Virologe Münchhoff, der nicht an der Arbeit beteiligt war.
Das Team um Chenyang Jiang von der Harvard University in Cambridge hatte Zellen von 64 Elite Controllern mit denen von 41 HIV-Infizierten verglichen, die mit der üblichen antiretroviralen Therapie behandelt werden. Sie schauten sich an, wo im Genom der Infizierten Erbgut des Virus zu finden ist.
Der Hintergrund: Wenn HI-Viren in den Körper gelangen, infizieren sie die Körperzellen, insbesondere T-Helferzellen - zentrale Bausteine des Immunsystems. Sie bauen ihr eigenes Erbgut in das der T-Helferzellen ein. In diesem Zustand nennt man sie Proviren. Vermehrt sich die Helferzelle, verdoppelt sie dafür nicht nur ihr eigenes Erbgut, sondern gleichzeitig das des Virus. Ein Provirus kann zudem die Zelle dazu bringen, die virale DNA in Proteine zu übersetzen. So entstehen neue Viren, die neue Zellen infizieren können.
HIV-Genom ist “blockiert und eingeschlossen”
Die Wissenschaftler fanden zunächst auch bei den Elite Controllern intakte Proviren im Zellgenom. Die befanden sich aber im Vergleich zu den therapiebedürftigen Infizierten sozusagen in einem tieferen Schlafzustand. Das lag daran, dass das Virus-Erbgut vor allem in sogenannte “Gen-Wüsten” des Erbguts eingebaut war - inaktive Bereiche, in denen die in der DNA steckenden Informationen nicht abgelesen und in Proteine übersetzt werden. Das HIV-Genom versteckte sich auch in Bereichen, in denen das Erbgut besonders dicht verpackt ist. Auch hier wird es kaum in Eiweiße übersetzt. Die Forscher beschreiben dies als “blocked and locked”-Zustand: blockiert und eingeschlossen.
“Die Positionierung des viralen Genoms bei den Elite Controllern ist sehr untypisch”, erläutert Studienleiter Xu Yu laut Mitteilung des Massachusetts General Hospital. “Bei der überwältigenden Mehrheit der HIV-Infizierten findet es sich in aktiven menschlichen Genen, so dass neue Viren ohne Weiteres gebildet werden können.” Vermutlich ermögliche diese unterschiedliche Positionierung der Proviren eine natürliche Kontrolle des Virus und damit der Infektion.
Immer mehr Zellen, in denen das Virus schlecht erreichbar ist
Wenn die Forscher Zellen der Elite Controller im Labor mit HIV infizierten, baute sich auch bei ihnen das Virus-Genom in aktive Bereiche des Zell-Genoms ein. Das bedeutet vermutlich, dass die Elite Controller nicht über einen besonderen Mechanismus verfügen, der die Viren gezielt in die unzugänglichen Bereiche des Erbguts schleust.
Stattdessen vermuten die Forscher, dass “selektive Kräfte” gezielt solche infizierten Zellen beseitigen, in denen das Virus-Erbgut besser zugänglich ist. Im Laufe der Zeit verblieben dann immer mehr Zellen, in denen das Virus-Erbgut gut versteckt und schlecht erreichbar ist. Über kurz oder lang könne das zu einer fast vollständigen Eliminierung intakter Proviren führen - und damit zu einer funktionellen Heilung der Erkrankung.
Berliner Patient: Seit 12 Jahren geheilt
Tatsächlich fanden die Forscher bei einem Patienten, der sich nachweislich mit dem HI-Virus angesteckt hatte, aber seit 24 Jahren ohne Therapie auskam, unter 1,5 Milliarden untersuchten Blutzellen kein einziges intaktes Provirus. Bei einem zweiten Patienten, der seit 12 Jahren nicht therapiert wird, entdeckten sie ein Provirus unter mehr als 1 Milliarde Zellen.
Ihrer Kenntnis nach sei die Abwesenheit von Proviren unter so einer großen Anzahl untersuchter Zellen bisher nur beim “Berliner Patient” Timothy Brown nachgewiesen worden - der erste und lange Zeit einzige Mensch, der als HIV-geheilt gilt. Bei ihm wurde das Immunsystem durch eine Stammzell-Therapie neu aufgebaut. Der Stammzell-Spender hatte dabei eine seltene Mutation, die dazu führt, dass die Zellen für das HI-Virus nicht empfänglich sind.
Mittlerweile gibt es weitere Patienten, die über eine Stammzell-Transplantation womöglich geheilt wurden: Im März diesen Jahres berichteten Forscher vom “Londoner Patienten”, bei dem etwa zweieinhalb Jahre nach Beendigung der Anti-HIV-Therapie kein funktionsfähiges HI-Virus mehr nachweisbar gewesen sei. Der dritte, womöglich geheilte “Düsseldorfer Patient” hatte zu diesem Zeitpunkt erst dreieinhalb Monate keine Medikamente mehr erhalten. Im Vergleich zum “Berliner Patienten”, der seit 12 Jahren als geheilt gilt, sind das recht kurze Zeiträume.
Stammzelltherapie ist sehr riskant
Für die allermeisten HIV-Infizierten kommt diese Behandlung aber auch dann nicht infrage, falls sich die Heilung bestätigen sollte, da eine Stammzelltherapie eine hoch riskante Behandlung ist. Ob auch die Elite Controller für immer ohne Medikamente leben können, ist bisher unklar. Die Autoren der aktuellen Studie weisen darauf hin, dass es auch bei ihnen theoretisch möglich sei, dass sich das Virus irgendwann wieder stärker vermehre und eine Therapie nötig werde.
Zu den Elite Controllern zähle nur eine kleine Zahl der Menschen mit HIV, schreibt Nicolas Chomon von der Université de Montreal (Kanada) in einem “Nature”-Kommentar zur Studie. Nichtsdestotrotz habe die Untersuchung möglicherweise Auswirkungen für die übrigen HIV-Infizierten. Denkbar sei, mit einer langfristigen Therapie einen kontinuierlichen “Immundruck” aufzubauen, der leicht zugängliche Proviren beseitige und die schwer zugänglichen selektiere - bis kaum noch Viren vermehrt würden. Ob das möglich ist, müsse allerdings noch geprüft werden.
Zwei Ansätze zur HIV-Heilung
Mit Blick auf eine mögliche HIV-Heilung gebe es grundsätzlich zwei unterschiedliche Ansätze, erläutert Münchhoff. “Die eine Idee ist es, die Integration des Virusgenoms in das Zellgenom grundsätzlich zu akzeptieren, aber dafür zu sorgen, dass die genetische Information des Virus nicht mehr abgelesen wird.” Die andere ziele darauf ab, die Proviren gezielt “herauszulocken” und sie dann zu eliminieren. Die vorgestellte Studie gebe für beide Ansätze neue Hinweise darauf, wie das gehen könnte. “Es bleibt aber eine Grundlagen-Studie, ein neuer Heilungsansatz ergibt sich daraus nicht unmittelbar.”
Auf eine andere Konsequenz aus der Studie weist Kommentar-Autor Chomon hin: Bei der Beurteilung der Rückfallgefahr nach dem Absetzen der ART sollte künftig nicht nur die Zahl der vorhandene Proviren bestimmt werden, sondern auch ihre Fähigkeit, Eiweiße zu bilden. Bisher werde meist nur einer der beiden Kennwerte bestimmt, sagt Chomon.
RND/dpa