RND-Experte über Hygieneregeln beim Coronavirus: “Wir richten uns oft an einem unrealistischen Maximum aus”
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Prof. Matthias Stoll, Infektiologe, Medizinische Hochschule Hannover
© Quelle: Rainer Dröse/dpa
Hannover. Die Frage, die viele von uns in den Kliniken stark umtreibt, ist: Was passiert, wenn ich selbst – ohne vollständige Infektionsschutzausrüstung – mit einer infizierten Person in Kontakt war? Die Vorschriften sind da eindeutig: Dann muss auch ich in Quarantäne, insbesondere weil ich in einem Krankenhaus arbeite. Diese Regel kann ich im Moment, wo die Fallzahlen sehr niedrig sind, auch gut mittragen.
Aber was geschähe, wenn, sagen wir, 5 oder 10 Prozent der Bevölkerung infiziert wären? Wenn gerade wir im Krankenhaus also ständig mit Infizierten in Kontakt kämen? Dann werden wir, wenn wir die medizinische Versorgung aufrechterhalten wollen, Abstriche bei solchen Regelungen machen müssen. In Aachen hat eine Klinik jetzt genau das getan. Laut den Vorschriften des Robert-Koch-Instituts müssten, wenn jemand aus der Belegschaft einer Station mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert ist, alle Kolleginnen und Kollegen für 14 Tage in Quarantäne. In Aachen hätte das den Betrieb auf einer Kinderintensivstation gefährdet. Deshalb ist man dort davon abgewichen. Die Begründungen sind nachvollziehbar: In Deutschland ist es die kommunale Ebene, die eigenverantwortlich vor Ort abwägen und entscheiden muss. Die teilweise heftig geführte Auseinandersetzung darüber, dass die Entscheidung eine bundesweite Hygieneempfehlung nicht eins zu eins umsetzt, erscheint mir unangemessen. Im Vordergrund der Diskussion sollten inhaltliche Abwägungen und nicht Formalia stehen.
Verunsicherung – bei Bürgern, niedergelassenen Ärzen und in Krankenhäusern
Hygieneregeln im Krankenhaus müssen so umfassend wie nötig und so einfach wie möglich sein, damit sie dann von allen befolgt werden können. Es ist eine Stärke unseres föderalen Systems, dass dies an der Spitze der Pyramide bundeseinheitlich vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgegeben wird. Das RKI agiert hier sehr klug, äußerst fachkundig und wohlbegründet. Aber einige Vorgaben auf dem Feld der Hygiene wurden der aktuellen Situation einer Epidemie, auf die sich die Menschheit alles andere als gut vorbereitet hatte, nicht immer gerecht. Aachen ist ein Indiz, dass einzelne Regelungen zur Hygiene bereits bei geringen Fallzahlen nicht überall durchgehalten werden können. Leider schafft das schon jetzt erkennbare Verunsicherung – bei Bürgern, niedergelassenen Ärzten und in Krankenhäusern.
Nehmen wir etwa die Frage der Krankenhauseinweisungen: Gemäß den RKI-Leitlinien musste bis Donnerstag jeder nachweislich mit SARS-CoV-2 Infizierte stationär aufgenommen werden. Das wollen viele Patienten aber nicht, und es ist bei dem glücklicherweise oftmals milden Verlauf medizinisch nur selten nötig. So hatten aber alle Beteiligten das Gefühl, dass etwas falsch gemacht wird, wenn sie etwas entschieden, was faktisch gut funktioniert – aber dennoch gegen die zentralen Leitlinien verstieß.
Unzureichender Schutz trotz Kitteln
Ein ähnliches Problem hatte mit den Schutzkitteln zu tun: Die europäische Leitlinie empfiehlt wasserabweisende Kittel. Diese sind gängig und vergleichsweise noch am besten verfügbar. Die RKI-Leitlinie empfahl aber wasserdichte Kittel, die man beim Umgang mit Infizierten tragen sollte. Diese sind sehr knapp, und derzeit kaum noch zu bestellen. Obendrein sind diese Kittel weniger bequem, man schwitzt darin. Solche Artikel haben eine Einheitsgröße. Wenn ich mich mit meinen langen Armen einem Patienten entgegen beuge, liegen meine Handgelenke frei, weil die Ärmel zu kurz sind: Der Schutz ist also völlig unzureichend. Dabei gelten laut ECDC-Leitlinie in der EU die lediglich wasserabweisenden Kittel als wirksamer Schutz gegen dasselbe Virus, ich hätte also von Anfang an auch diese tragen können. Diese Kittel fallen offenbar in der Größe anders aus und passen besser.
Das RKI hat hier gerade an diesem Donnerstag reagiert und die Vorschriften gelockert. Aber all das waren und sind Beispiele für vermeintliche Kleinigkeiten, die vor Ort zu kaum auflösbaren Konflikten mit den Vorgaben führen. Wir sollen uns nach Standards richten, die wir nicht einhalten können, und können teilweise die notwendigen Materialien nicht ausreichend beschaffen. Schon vor Covid-19 wurde das in Deutschland zunehmende Phänomen der “neuen Unlösbarkeit” beschrieben: Die Vorgabe von Standards, die wir nicht einhalten können; die Verwendung von Materialien, die nicht ausreichend beschafft werden können. Hingegen gibt es in Frankreich einen Präsidenten, der zeitgleich und lösungsorientiert einfach alle Mundschutzvorräte beschlagnahmt. Diese Entschlossenheit verschärft einerseits unser Beschaffungsproblem in Deutschland. Andererseits vermisse ich ähnliche Signale bisher bei uns.
Weniger auf die Kassandra-Rufer hören
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich nicht die Vielzahl an öffentlich geführten und letztlich kontraproduktiven Diskussionen zu Detailregelungen im Kontext von Covid-19 zusätzlich befeuern. Im Gegenteil wäre mein Appell zweifach: An die zentralen Planungsstäbe gerichtet der Wunsch, noch sensibler auf die real existierenden und heterogenen Widernisse in den Versorgungsstrukturen zu hören und einzugehen. An die Öffentlichkeit gerichtet die Anregung, noch gelassener mit der Covid-19-Ausbreitung umzugehen und sich weniger stark durch teilweise überzogene, pessimistische Einschätzungen einiger Kassandra-Rufer unter den vielfältigen Experten verunsichern zu lassen.
Am Ende steht ein psychologisches Problem unserer Informationsgesellschaft. Auf Fotos aus China sahen wir häufig die Leute in Mondanzügen. Das schürt völlig falsche Erwartungen und Ängste. Die hierzulande empfohlenen, viel weniger aufwendigen Hygienemaßnahmen sind also nicht etwa ein Sorgfaltsmangel der niedergelassenen Ärzte oder Krankenhäuser. Wir richten häufig ohne guten Grund einige Erwartungen zum Umgang mit diesem neuen Virus an einem unrealistischen Maximum aus. Was in den ersten Wochen, als man in China viel weniger zu den Ansteckungswegen wissen konnte, noch sehr angemessen war, ist aber jetzt überholt.
Nicht nur die Chinesen müssen sich einschränken – sondern auch wir
Wir haben trotz der steigenden Zahl erfasster Fälle nach wie vor guten Grund, mit einer gewissen Gelassenheit auf dieses Virus zu schauen. Das Virus scheint nicht so tödlich zu sein, wie man nach den ersten Zahlen aus China fürchten musste. Die Kurve der Neuinfektionen flacht sich – selbst nach den Ausbrüchen im Iran, in Südkorea und Europa – schon wieder etwas ab. Wir haben – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – weltweit eine Abnahme ansteckender Fälle, weil immer mehr Fälle der ersten Welle nun schon ausgeheilt sind. Dennoch haben wir in Deutschland derzeit eine deutliche Aufwärtsbewegung. Wir müssen lernen, dass Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht allein von den Chinesen zu tragen sind, sondern auch von uns. Außerdem gehört es zum normalen Ablauf solcher Krankheitsausbrüche, dass Ratschläge und Regeln, die ganz am Anfang sinnvoll waren, bei steigenden Zahlen überdacht und neu bewertet werden müssen. Sollten tatsächlich irgendwann viel mehr Menschen infiziert sein als heute, dann werden wiederum noch einmal andere Prinzipien nötig sein als heute. Das Bewusstsein dafür muss noch weiter wachsen.