RND-Report aus Wuhan: Shutdown vorbei - eine Stadt nach Corona

Wuhan: Passagiere stehen in Schlangen. Nach elf Wochen in Quarantäne dürfen sie nun wieder reisen.

Wuhan: Passagiere stehen in Schlangen. Nach elf Wochen in Quarantäne dürfen sie nun wieder reisen.

Wuhan. Als Timo Balz zum ersten Mal nach fast zwei Monaten die Straße vor seiner Wohnsiedlung betritt, zückt der 45-jährige Schwabe sein Smartphone und verschickt euphorisch Selfies an seinen Freundeskreis. Der erste Gang in Freiheit führt ihn schließlich zum nächstgelegenen Supermarkt, direkt ans Süßigkeitenregal: “Ich habe Unmengen Chips und Schokoriegel geholt”, erinnert sich der Professor für Fernkunde an der Universität Wuhan.

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Die letzten Wochen über hat die vierköpfige Familie ausschließlich in ihrem Apartment verbracht, von wo das Nachbarschaftskomitee regelmäßig Lebensmittellieferungen vor die Tür geliefert hat. Für Gemüse, Reis, ja auch Fleisch war gesorgt. Doch die erste Tüte Paprikachips nach dem Aufheben der Ausgangssperre werden die zwei Kinder von Balz wohl nicht so schnell wieder vergessen.

Tiefe Narben in der kollektiven Psyche Wuhans bleiben

Nachdem bereits die Einschränkungen innerhalb der Stadt teilweise gelockert wurden, wird Wuhan am Mittwoch wieder eröffnet: Dann nämlich dürfen die Bewohner erstmals seit dem 23. Februar wieder die Stadtgrenze verlassen. Mit über 2500 Virustoten fallen rund drei Viertel aller landesweiten Covid-19-Opfer auf die zentralchinesische Stadt. In Wuhan hat das Virus tiefe Narben in der kollektiven Psyche hinterlassen.

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Für Jahrzehnte wird der Erreger mit der Stahl- und Industriestadt verbunden bleiben. Auf der Höhe der Epidemie gelangten tragische Bilder durch die chinesische Zensur an die Öffentlichkeit: von hoffnungslos überfüllten Spitälern, die scheinbar infizierte Personen abweisen mussten. Oder Leichensäcke, die in den Warteräumen der Kliniken gelagert wurden. Krematorien, deren Schornsteine rund um die Uhr Rauch ausstießen.

So gelang die Eindämmung

Doch Wuhan wurde schlussendlich zum Symbol für den erfolgreichen Kampf Chinas, das Virus zu unterdrücken: Mit systematischem Hausarrest, einer Massenmobilisierung von medizinischem Personal und der strikten Isolierung von Infizierten hat die Stadt es geschafft, die außer Kontrolle geratene Epidemie wieder einzudämmen.

Für Timo Balz, mutmaßlich dem letzten verbliebenen Deutschen in der Stadt, fühlt sich das Leben in Wuhan schon wieder langsam normal an: Der Lieferdienst kommt wieder zum Pförtnerhäuschen, um das bestellte Essen abzugeben. Die Gärtner stutzen wieder den Rasen im Vorhof. Und von der Straße hört man wieder Menschenlärm.

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Der neue Normalzustand

Doch verglichen mit dem Alltag vor der Krise ist natürlich immer noch nichts normal: Nur jeden zweiten Tag hat der Deutsche überhaupt Ausgang, beschränkt auf essenzielle Notwendigkeiten. Die Quarantäne, so betont Balz, habe ihm jedoch persönlich wenig zugesetzt: Sein Gehalt von der Universität wurde weiterhin überwiesen, in der freien Zeit hat der Wissenschaftler gar eine Studie in einem Fachjournal publiziert.

Auf den sozialen Netzwerken Chinas lassen sich Szenen dieses neuen Normalzustands in Wuhan ausmachen: Die Einkaufszentren sind mittlerweile geöffnet, jedoch weitgehend leer. Erste Hobbyangler haben sich bereits am Ufer des Jangtse-Flusses angesammelt. Die Passanten auf den Straßen tragen ausschließlich Gesichtsmasken, teilweise auch medizinische Schutzbrillen und -handschuhe. Eine chinesische Endzwanzigerin berichtet, dass die Stimmung nach wie vor angespannt sei. Eine zweite Infektionswelle könne schließlich jederzeit ausbrechen.

Strenge Smartphone-App regelt Freigang

Denn noch immer gibt es potenziell Tausende asymptomatische Virusträger in der Stadt. Die wahre Dunkelziffer ließe sich schließlich nur erfassen, wenn wirklich jeder Stadtbewohner auf Sars-CoV-2 getestet würde. Um den schrittweisen Übergang zur Normalität möglichst zu kontrollieren, bekommen die Bewohner über eine Smartphone-App einen farbigen QR-Code zugewiesen. Wer nachweislich 14 Tage ohne Symptome ist, bekommt einen grünen Code und darf sich frei innerhalb der Stadt bewegen.

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Rasch jedoch ändert sich der QR-Code auf Gelb – etwa, wenn man sich zufällig mit einem Infizierten im selben Supermarkt aufgehalten hat. Dann muss man zunächst für mehrere Tage in Heimquarantäne. Smartphone-Nutzer mit rotem Code sind verpflichtet, eine 14-tägige Heimquarantäne unter medizinischer Aufsicht zu absolvieren.

Regierung im Zwiespalt: Sicherheit oder Shopping?

Emmanuel Geebelen, 42 Jahre, muss ebenfalls seinen QR-Code scannen, um seine Wohnung in Wuhan zu verlassen. Ein Mitglied vom Nachbarschaftskomitee muss der gebürtige Genfer darüber unterrichten, wohin er genau geht. “Das soll einem bewusst machen, dass man sich genau überlegt, rauszugehen oder nicht”, sagt der Schweizer. Dabei war der gelernte Uhrmacher mit seiner Familie bereits im Restaurant als auch in einem Massageladen. “Die Regierung will schließlich auch die Wirtschaft ankurbeln. Wir bekommen teilweise Coupons als Anreiz, shoppen zu gehen”, sagt er.

Dank Ausgangssperre: Neuer Job und mehr Zeit mit der Familie

Geebelen betont ebenfalls, der Ausgangssperre auch Positives abgewonnen zu haben – etwa die Zeit mit seinen zwei Kindern. Nur habe seine chinesische Frau, ehemals Leiterin eines Kindergartens und einzige Ernährerin der Familie, aufgrund der Krise ihre Arbeitsstelle verloren. Doch auf pragmatisch chinesischem Wege hat sich auch dieses Problem gelöst: Per Wechat-App – dem chinesischen Pendant von Whatsapp – hat Geebelens Frau den Vertrag für eine neue Stelle im ostchinesischen Hangzhou unterschrieben. Per Videoschalte arbeitet sie bereits von zu Hause aus. Spätestens in einer Woche wird die Familie dann übersiedeln – in eine Wohnung, für die die Kaution schon eingezahlt ist.

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Der Deutsche Timo Balz freut sich dennoch darauf, wenn die Einschränkungen des Alltags endlich verschwinden. Was er als Erstes machen würde? “All die normalen Dinge: spazieren, ins Büro gehen – und endlich mal wieder mit der ganzen Familie ein schönes Essen im Restaurant genießen.”

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